Bachkantaten in der Predigerkirche
 

Wachet! betet! betet! wachet!

Endzeitstimmung und adventliche Hoffnung liegen nahe beisammen. Dies ist gut spürbar im Text der Kantate 70, der auf Salomon Franck zurückgeht. In Weimar vertonte Bach diesen Text für den zweiten Adventssonntag 1716 (BWV 70a). Als er in Leipzig 1723 vor der Aufgabe stand, eine Kantate zum 26. Sonntag nach Trinitatis zu schreiben, bot sich ihm die Gelegenheit, seine ältere Komposition wieder vorzunehmen und leicht zu erweitern. An diesem Sonntag wurde als Epistel der Abschnitt aus dem 2. Petrusbrief 3, 3-13 verlesen, der von der Gewissheit der Wiederkunft Christi spricht. Das Evangelium brachte die Ankündigung des Weltgerichts (Mt. 25, 31-46). Bach fügte der vorhandenen Kantate vier Rezitativstrophen und einen Choralvers hinzu und machte so aus einer 6-sätzigen Kantate eine 11-sätzige, die dann am 21.11.1723 aufgeteilt vor und nach der Predigt musiziert wurde.

Die ganze Kantate hat - wie drei andere Kantaten zum Ende des Kirchenjahres (O Ewigkeit du Donnerwort, Es reisset euch ein schrecklich Ende, Wachet auf ) - einen sehr dramatischen Zug. Ein aufgeregtes Orchestertutti, verstärkt durch eine virtuos geführte Trompete beginnt mit fanfarenartigen Signalmotiven im kriegerischen C-Dur. Über eine lange, im Bass chromatisch geführte Sequenz baut Bach die Spannung bis zum ersten Choreinsatz auf. Dieser setzt in Stimmpaaren und mit einem neuen Motiv (Tonleitern und Drehfiguren) ein auf das Wort wachet. Im Kontrast dazu ist die Aufforderung betet sehr ruhig und fast flehend komponiert. An diesen Stellen übernimmt dagegen das Orchester die wachet -Figur. Eindringlich werden die Worte Christi am Ölberg (Wachet und betet) insgesamt an die 250 Mal wiederholt. Der B-Teil bringt einen neuen Gedanken, eine kurze, rhythmisch prägnante Anapäst-Figur zu seid bereit, allezeit.

Das folgende accompagnato-Bassrezitativ schliesst attacca in der nahezu gleichen Orchesterbesetzung an - ein von Bach eher selten benutztes Mittel, womit die Spannung des ersten Satzes unmittelbar erhalten bzw. noch erhöht werden kann. Das Orchester begleitet und kommentiert sehr differenziert mit kurzen Einwürfen die Rede des Basses: Schnelle Tonrepetitionen (Erschrecken), sanft wiederholte Akkorde (erwählte Gotteskinder) und Imitationen der Bassstimme (Freude).

Da eine ausführliche Besprechung aller Sätze diesen Rahmen sprengen würde, folgen hier nur weitere Einzelbemerkungen.

In Satz 8 spricht Franck von Seelen Flor. Dieser Begriff taucht heute höchstens noch in der Verbindung mit Trauer auf ("Trauerflor"). Hier ist vermutlich Flor als blühende Entwicklung des seelischen Lebens gemeint.

Satz 9 ist (wie Satz 2) ein dramatisches accompagnato -Rezitativ, das in der plastischen Ausgestaltung der Bilder sogar noch eine Stufe weitergeht. Als wäre dies nicht genug, lässt Bach die Trompete dazu einen Choral spielen, der ebenfalls die Endzeitstimmung thematisiert: "Es ist gewisslich an der Zeit, dass Christus wiederkomme." Es handelt sich um die deutsche Übertragung des dies irae, der lateinischen Sequenz der Totenmesse (Bartholomäus Ringwaldt 1586), die in den evangelischen Gottesdiensten heute noch an den letzten Sonntagen des Kirchenjahres gesungen wird.

Die letzte Arie (10) zeigt zwei völlig gegensätzliche Charaktere: Einen ruhigen, fast schon entrückten Anfangs- und Schlussteil (molt' adagio), nur vom Basso Continuo begleitet und einen Mittelteil als wildes Orchesterunisono mit Trompetenfanfaren (presto). Für Albert Schweitzer (1908) sind dies "Tumultmotive" und in der Tat hat Bach solche und ähnliche Figuren häufig in den Turbachören seiner Passionen verwendet.

Im Schlusschoral lässt Bach die Streicher für einmal nicht den Vokalsatz verdoppeln, sondern teilt ihnen eigenständige Stimmen zu. Dadurch entsteht ein dichtes, sehr bewegtes Geflecht, das die innere Erregung und sehnsüchtige Stimmung der ganzen Kantate widerspiegelt und erst am Schluss zur Ruhe kommt.

Wie schön leuchtet der Morgenstern

Diese Kantate entstand für das Fest Mariä Verkündigung am 25. März 1725, das in jenem Jahr auf den Palmsonntag fiel. Sie thematisiert die Freude über die unerwartete Verheissung der Geburt Christi. Aufgrund ihres Textes erscheint die Positionierung dieser Kantate als Adventskantate heute durchaus gerechtfertigt. In der Reihe der Choralkantaten des Jahrgangs 1724/25 ist dies die letzte. Bach setzt mit dem eigentlich zu Epiphanias gehörenden Choral "Wie schön leuchtet der Morgenstern" von Philip Nicolai (1599), dessen erste Strophe er als Eingangssatz und die letzte als Schlusschoral vertont, eine inhaltliche Klammer. Dieses bekannte Lied des Theologen und Liederdichters Nicolai ist voller mystischer Begeisterung und tröstlicher Kraft, der man den Leidensweg und die harten persönlichen Schicksalsschläge, die Nicolai in den Pestjahren um 1600 erleben musste, nicht anhört. Die Melodie schreitet den Raum einer Durtonleiter zweimal ab unter Verwendung von einprägsamen Dreiklangsmotiven und Wiederholungen kurzer Wendungen. Damit ist sie für eine mehrstimmige figurierte Bearbeitung äusserst geeignet. Der Textdichter der übrigen Sätze war möglicherweise Bach selbst. Er wendet das Geschehen der Verkündigung Mariae nach innen und zeigt gewissermassen einen inneren Prozess. Die so gewonnene neue Perspektive ist ihm ein süsses Lebenswort, Freudenschein und Erquickung. Kaum jemand hat diesen Vorgang im Sinne der Mystik prägnanter ausgedrückt als Meister Eckhart: "Ich muss Maria sein und Gott aus mir gebären, Soll er mich ewiglich der Seligkeit gewähren."

Der Eingangssatz, eine grossangelegte Choralmotette mit c.f. im Sopran, präsentiert sich als concerto grosso. Zwei Geigen führen mit einem aus dem Choralanfang abgeleiteten Motiv die konzertierenden Stimmen an. Sie dialogisieren paarweise mit den Hörnern und den Oboen da caccia. Dazu kommt ein zweites Motiv in durchgehenden 16teln und Arpeggio-Figuren, in dem man leicht das Funkeln des Morgensterns sehen kann. Die Bewegung ist im 12/8-Takt und hat dadurch einen pastoralen Grundcharakter. Der Gesamtklang ist von einer milden, freundlichen   Festlichkeit, da die hohen und hellen Trompeten fehlen, und entspricht der Innerlichkeit des Chorals. Das folgende Rezitativ bringt in komprimierter Form den biblischen Bezug (Gabriel, Bethlehem); zudem ist es der einzige Moment in der Kantate, an dem der Name Mariens genannt wird.

In der Arie für Sopran und Oboe da Caccia (Satz 3) kann man in den aufsteigenden und zunehmend bewegteren Figuren mit Albert Schweitzer das "Wabern und Hin- und Herlodern der Flamme" entdecken. Interessant ist, wie Bach sich hier der Da Capo-Form (ABA) bedient, aber einen anderen Schluss anhängt und danach noch einmal das instrumentale Eingangsritornell wiederholt.

In der nächsten Arie, einem Menuett, stellt Bach dem Tenor den vollen Streichersatz zur Seite. Die beiden konzertierenden Violinen umspielen mit freudig jubelnden Diminutionen der Oberstimme. Wie   in vielen Tanzsätzen lässt sich auch hier im formalen Aufbau eine starke Regel-mässigkeit entdecken: Jeweils vier Takte (2x2) gehören motivisch zusammen; grössere Einschnitte entstehen nach 12 (3x4) oder 28 (7x4) Takten. Einzig der B-Teil macht hier eine Ausnahme, indem ihn Bach in einer Phrase um drei Takte verkürzt, sonst käme man insgesamt auf 280 (70x4) Takte.

Im Schlusschoral erweitert das zweite Horn mit Dreiklangsbrechungen und Durchgängen den ansonsten schlichten vierstimmigen Satz zur Fünfstimmigkeit.

Eine kurze Geschichte des BWV

Diese Kantate nimmt allein deshalb schon einen Ehrenplatz unter den Bach-Kantaten ein, da sie 1851 in der neu begründeten Bach-Gesamtausgabe den Reigen der ersten zehn Kantaten eröffnet, nummeriert als Kirchenkantate Nr. 1. All diese Kantaten (mit Ausnahme von BWV 6) waren bisher unveröffentlichte Choralkantaten, deren Stimmenmaterial sich im Archiv der Thomasschule zu Leipzig befand. Eigentlich hätte die h-Moll-Messe als erster Band veröffentlicht werden sollen. Da sich allerdings ein Schweizer Musikpädagoge, Hans-Georg Nägeli, standhaft weigerte, ein in seinem Privatbesitz befindliches Autograph der Messe für die Neuausgabe zur Verfügung zu stellen, musste dieses Vorhaben verschoben werden. Der erste Band wurde von Moritz Hauptmann (1792-1868) herausgegeben, dem siebten Nachfolger Bachs als Thomaskantor. Hauptmann hatte - im Zuge der Wiederaufführung einzelner Instrumentalwerke Bachs und vor allem der Matthäuspassion durch Mendelssohn (1829) - kurz nach seinem Amtsantritt (1842) in Leipzig angefangen, auch Bachsche Kantaten teilweise gekürzt in den Gottesdienst zu integrieren. Vier Tage vor der Wiederaufführung der Johannes-Passion 1851 erklang auch die Morgenstern -Kantate zum ersten Mal nach Bachs Tod wieder. Es sollte allerdings noch einmal 100 Jahre dauern, bis das von Wolfgang Schmieder auf der Grundlage von diversen Verzeichnissen und Katalogen erstellte Bach-Werke-Verzeichnis im Druck erscheinen konnte (1950), nachdem seine fertige Druckvorlage dem Luftangriff auf Leipzig 1943 zum Opfer gefallen war. Seither verwendet man die Einordnung der Werke Bachs weltweit ganz selbstverständlich, obwohl die Bachforscher Hans-Joachim Schulze und Christoph Wolff 1985 ein neues Klassifikationssystem aufgebaut haben, das Bach Compendium, wovon bisher vier von fünf Bänden erschienen sind. Dort trägt unsere Kantate die eher langweilige Signatur A 173 ...

Jörg-Andreas Bötticher