Bachkantaten in der Predigerkirche
   
     
     
     
     

Die beiden Kantaten, die im heutigen Konzert erklingen, haben das gemeinsam, dass sie kammermusikalischer Art sind, d. h. sie erfüllten zur Zeit ihrer Entstehung ohne grossen Chor- oder Orchesteraufwand ihre Funktion als Evangelienmusik in einem gewöhnlichen Sonntagsgottesdienst der festlosen Kirchenjahrzeit. Sie waren eingebettet in einen liturgischen Ablauf, der Sonntag für Sonntag der gleiche war, und wenn sie aufgeführt wurden, so nicht als Konzert, sondern als Teil der Liturgie. Damit endet aber auch bereits die Gemeinsamkeit der beiden Kantaten. Sie sind nämlich nicht für den gleichen Sonntag des Kirchenjahrs komponiert worden, und sie stammen auch nicht aus der gleichen Schaffensperiode Bachs.

Klopfet an, so wird euch aufgetan
Die Kantate "Was Gott tut, das ist wohlgetan" (BWV 98), die Bach zum 10. November 1726   vertont hat, gehört auf den 21. Sonntag nach Trinitatis zum Evangelium aus Johannes 4, Verse 47-54. Darin wird die Geschichte eines königlichen Beamten erzählt, dessen todkrankes Kind geheilt wird, weil er glaubt. Er lässt sich auch von Jesu Vorwurf, die Menschen bräuchten für ihren Glauben Zeichen und Wunder, nicht abhalten, sondern ruft nur erneut: "Herr, komm hinab, ehe denn mein Kind stirbt." Darauf folgt in der Geschichte die Zusage Jesu zum verzweifelten Vater: "Gehe hin, dein Sohn lebt!" und dann ganz zentral dessen Reaktion: "Der Mensch glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm sagte, und ging hin." Unterwegs wird ihm dann von seinen Knechten bestätigt, dass das Kind genau zu jener Stunde gesund geworden sei, da Jesus zu ihm gesagt hatte: "Dein Sohn lebt." Und noch einmal heisst es dann: "Und er glaubte mit seinem ganzen Hause." Die Kantate BWV 98 erzählt diese Geschichte, die ja von der Lesung im Gottesdienst her bekannt war, nicht noch einmal nach, sondern entnimmt ihr die folgenden Grundgedanken: Auch wenn der Mensch voll Leidensqual und Angst in höchsten Nöten schwebt, darf er wissen, dass Gott lebt, sein Wort hält und die Seinen nicht verlässt. Für den Menschen aber heisst dies, voll Glauben und Vertrauen inständig um Hilfe zu bitten wie der königliche Beamte der Evangelienlesung oder wie von Jesus in der Bergpredigt gefordert: "Klopfet an, so wird euch aufgetan!" (Matthäus 7,7).

Meinen Jesum lass ich nicht
Bachs Kantate BWV 98 hat eine aussergewöhnliche Struktur. Sie beginnt wie die Choralkantaten mit einem Choralchorsatz über den Choral "Was Gott tut, das ist wohlgetan". Darauf folgen dann aber je zwei textlich und musikalisch vom Choral unabhängige Rezitative und Arien im Wechsel, deren zweite den Abschluss der Kantate bildet. Es fehlt also der sonst übliche Schlusschoral. Im Eingangschor wird der Choral von den Singstimmen unterstützt durch die Blasinstrumente in verhältnismässig schlichter Form in den unabhängigen Streichersatz hinein gesungen. Nur das letzte Wort "walten" ist ausgedehnter gestaltet. Die beiden Rezitative Nr. 2 für Tenor und Nr. 4 für Alt sind Seccorezitative, und es ist interessant, dass das Rezitativ Nr. 2 darauf verzichtet, die vom Text angebotene Dramatik auszulegen. So folgt auf den Ausruf: "Und ist kein Retter da!" von der gleichen Stimme gesungen nahtlos die Antwort : "Der Herr ist denen allen nah, die seiner Macht und seiner Huld vertrauen". In der Sopranarie Nr. 3 "Hört, ihr Augen, auf zu weinen" spielt eine Solooboe mit, und in der Bassarie Nr. 4 ?Meinen Jesum lass ich nicht" sind es die Violinen I und II. Es macht die Besonderheit dieser Arie aus, dass Bach bei der Vertonung der ersten Zeile, die ein wörtliches Zitat des beliebten gleichnamigen Chorals von Christian Keymann ist, jedesmal auch die leicht verzierte Choralmelodie verwendet. Dies darf vielleicht als Ersatz für den fehlenden Schlusschoral gewertet werden. Es bleibt anzufügen, dass im Arientext im Zusammenhang mit der Choralzeile auch das bekannte und oft vertonte Wort des Stammvaters Jakob anklingt, der nach seinem Kampf mit dem Engel ausgerufen hatte: "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn" (1. Mose 32, 27).

So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist,
und Gott, was Gottes ist
Die Kantate BWV 163 "Nur jedem das Seine" gehört auf den heutigen 23. Sonntag nach Trinitatis. Sie stammt aus dem Jahr 1715, also aus der frühen Schaffensperiode Bachs, als er Konzertmeister am Hof in Weimar war. Wie häufig in jener Zeit vertonte Bach einen Text des Weimarer Hofbibliothekars, Münzkabinettbetreuers und Kantatendichters Salomo Franck, in dessen Dichtungen sich dogmatisch-lehrhafte Formulierungen direkt neben Aussagen inniger, fast mystischer Gottes- und Jesusliebe finden. Bezeichnend für Franck ist es auch, dass er sich bei seinen Kantatentexten eng an das jeweilige Sonntagsevangelium anschliesst. Am 23. Sonntag nach Trinitatis ist dies die Fangfrage aus Matthäus 22, mit der die Schriftgelehrten Jesus des Hochverrats zu überführen suchten. Es ist die Frage, ob es recht sei, dass man dem Kaiser Steuer gebe. Geschickt zog sich Jesus damals mit Hilfe einer Steuermünze, die ja Bild und Überschrift des Kaisers zeigte, aus der Affäre und sprach: "So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist" (Matth. 22, 15 - 22).

Lass mein Herz die Münze sein
Die Kantate BWV 163 beginnt mit einer Da capo-Arie für Tenor, der im Anfangs- und Schlussteil nur die erste Textzeile zugrunde liegt. Sie ist devisenartig vertont mit einem Motiv, das auch im Orchester ständig vorkommt, so dass sich die Zeile "Nur jedem das Seine" wie eine Losung durch den ganzen Satz hindurch zieht. Im Mittelteil der Arie werden dann die beiden Empfänger Kaiser und Gott auseinander gehalten: "Man weigre sich nicht der schuldigen Pflicht" der Obrigkeit gegenüber, "doch bleibet das Herze dem Höchsten allein." Und auf dieses Zweite konzentriert sich nun die Fortsetzung der Kantate; denn es ist allein das Herz, was der Mensch als sein Ureigenstes Gott geben kann. Salomo Franck lässt sich dabei von der Steuermünze aus dem Evangelium anregen und sieht das menschliche Herz ganz unter diesem Bild. Freilich tut sich dabei nun die Schwierigkeit auf, dass diese Münze ja nur schlechtes Geld ist, da ihr Bild durch den Satan verdorben wurde. Darum geht die Bitte an Jesus, Gottes Ebenbild möge erneuert und die Münze wieder zu schönem Glanz gebracht werden. Diese Gedanken werden im Seccorezitativ Nr. 2 und in der Arie Nr. 3 entwickelt, die beide von der Bassstimme gesungen werden. Bemerkenswert ist dabei die Arie, die ganz in der Tiefe liegt. Neben der Bassstimme und dem Basso continuo spielen nur noch zwei Celli mit. Das ist nach Alfred Dürr wohl ein Unikum in Bachs Kantatenschaffen, vielleicht inspiriert vom Text: "Komm, arbeite, schmelz und präge, dass dein Ebenbild in mir ganz erneuert glänzen möge."

Nimm mich mir und gib mich dir
Auch das Rezitativ Nr. 4 und die Arie Nr. 5 sind von ganz besonderer Gestalt. Es sind beides Duette für Sopran und Alt, in denen sich die ganze Experimentierfreude des jungen Bach zeigt. Im Rezitativ folgen sich die beiden Stimmen imitatorisch-kanonisch, den Text auf höchst lebendige Weise auslegend, wobei im Verlauf des Satzes auch der Generalbass mehr und mehr in die Bewegung miteinbezogen wird. In der Arie "Nimm mich mir und gib mich dir" wird die darin ausgedrückte mystische Einheit mit Jesus dadurch noch verstärkt, dass die Streicher zeilenweise den Choral "Meinen Jesum lass ich nicht" spielen. Es ist dies eine Zutat Bachs, durch die sich der junge Musiker dem viel älteren Textdichter als kongenial erweist, und gerne würde man etwas über die Reaktion der damaligen Zuhörer erfahren, des Herzogs Wilhelm Ernst, des Dichters Salomon Franck, des übrigen Hofes! Die Kantate schliesst mit der letzten Strophe des Liedes "Wo soll ich fliehen hin?", das in Weimar auf eine eigene Melodie gesungen wurde. In der Partitur hat sich nur die Bezifferung dazu erhalten und die Beischrift: "Chorale in semplice stylo".  

Dr. theol. Helene Werthemann