Bachkantaten in der Predigerkirche
 
 

Das Evangelium des heutigen 19. Sonntags nach Trinitatis steht im Matthäusevangelium Kapitel 9, Verse 1 bis 8. Es ist die Geschichte von der Heilung des Gichtbrüchigen, die bei Matthäus um das von den anderen Evangelien erzählte Detail kürzer ist, dass nämlich der Kranke wegen der Volksmenge durch das abgedeckte Dach direkt vor Jesu Füsse herunter-gelassen werden musste. Es fehlt also gerade jene Szene, durch die die Bibelillustratoren in besonderer Weise angeregt wurden, Rembrandt, Matthäus Merian, Schnorr von Carolsfeld. Allen Evangelienberichten aber ist gemeinsam, dass Jesus zum Missfallen vieler Anwesenden dem Kranken erst die Sündenvergebung zusprach, bevor er ihn heilte. Beide Kantaten, die im heutigen Konzert erklingen, sind sich darin ähnlich, dass sie nicht das ganze Evangelium aus-legen, sondern nur Teilaspekte davon. Vom irdischen Wandern mit dem Kreuzstab redet die eine, von der Sündenvergebung die andere.

Ich will den Xstab gerne tragen
Die aus dem Jahr 1726 stammende Solokantate BWV 56 für Bass mit vierstimmigem Schlusschoral ist eine der bekanntesten und beliebtesten Kantaten Bachs. Albert Schweitzer hat von ihr gesagt, dieses Werk gehöre zum Herrlichsten, was Bachs Vermächtnis an uns berge. Gerühmt wird dabei nicht nur die Musik, sondern auch der von einem unbekannten Dichter stammende Text, in welchem das menschlichen Leben unter zwei verschiedenen Bildern gesehen wird: zum einen als ein Wandern mit dem Kreuzstab und zum andern als eine Schifffahrt auf wildem Meer. Das Wort Kreuzstab kommt in der geistlichen Dichtung verhältnismässig selten vor, und es ist in unserer Kantate in einer eigenartigen Doppel-bedeutung gebraucht, nämlich einerseits für etwas, das zu tragen ist wie das Kreuz Christi, und anderseits für etwas, das das Wandern erleichtert wie der Stecken und Stab des Psalmisten. Aus Gottes Hand kommend, ist der Kreuzstab gerne zu tragen, und Ziel der irdischen Wanderschaft voller Plagen ist unter seiner Führung das gelobte Land, wo aller Kummer verschwinden und Gott nach Aussage der Johannesoffenbarung (7,17 und 21,4) alle Tränen abwischen wird. Durch einen Wechsel des Versmasses, den Bach triolisch vertont, kommt in diesen Schlussteil der Arie eine fröhliche Beschwingtheit. Auf sie folgt freilich noch einmal das Orchesterritornell, das in der Arie viermal erklingt und ihr als Ganzem ihren unverwechselbaren Charakter gibt. Das Wort Kreuz wird darin durch eine übermässige Sekunde (b-cis) hervorgehoben und dass Tragen des Kreuzstabes durch stufenweis fallende Seufzerfiguren dargestellt. Auf den erhaltenen Titelumschlägen der originalen Partitur und der Stimmen ist übrigens das Wort Kreuz durch das Kreuzzeichen X ersetzt: "Ich will den Xstab gerne tragen".

Im Rezitativ Nr. 2 wird das zweite Bild verwendet, in welchem das Leben mit einer Schiff-fahrt auf stürmischem Meer verglichen wird. Es ist anzunehmen, dass der Kantatendichter durch den Eingangsvers des Sonntagsevangeliums dazu angeregt wurde, wo es heisst: "Da trat Jesus in das Schiff und fuhr wieder herüber und kam in seine Stadt" (d.h. nach Kaper-naum). Bach seinerseits liess sich durch den Rezitativtext zur Darstellung der wilden Wellen mit bewegten Figuren im Cello anregen, die genau dann aufhören, wenn der Text vom Ende des wütenvollen Schäumens spricht. Das Ziel der Reise ist auch hier eine Stadt, nämlich das himmlische Jerusalem, wie es im 21. Kapitel der Johannesoffenbarung geschildert wird. Die darauf folgende Arie Nr. 3, die in B-dur steht und bei der eine Solooboe mitspielt, ist kraftvoll-freudig. Sie lässt an den geheilten, vom Krankheits- und Sündenjoch befreiten Gichtbrüchigen denken, der nun - nach Jesaja 40, 31 - von der Erde auffahren kann mit Flügeln wie ein Adler, der laufen kann, ohne müde, und wandeln, ohne matt zu werden. Doch klingt auch hier - von Bach durch mehrfache Wiederholung des Wunsches "O gescheh es heute noch!" hervorgehoben - Todessehnsucht an. Von Todesbereitschaft redet das sich an-schliessende ausinstrumentierte Seccorezitativ Nr. 4: "Ich stehe fertig und bereit." Auch es nimmt textlich Bezug auf das Bild des Lebens als einer Schifffahrt, indem es vom Lebens-ende als dem "Port der Ruhe" spricht. Darauf wird in einem Ariosoteil der Schluss der Arie Nr. 1 zitiert: "Da leg ich den Kummer auf einmal ins Grab, da wischt mir die Tränen mein Heiland selbst ab." Während aber die Bassstimme das erste Mal - das Grab betonend - in der Tiefe endet, so jetzt in der Höhe beim Heiland im Himmel. Dem vierstimmig gesetzten Schlusschoral, der die Kantate auch textlich wunderbar abrundet, wird in der Bachliteratur als einem eigentlichen Meisterwerk höchstes Lob gezollt. Allem Diesseitigen enthoben gehöre er - so Hans Joachim Schulze - zum Vollkommensten, was Bach je geschrieben habe.

Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, machet uns rein von aller Sünde (1. Joh. 1,7)
Es gibt innerhalb der christlichen Kirche eine Blut- und Wundentheologie, die das Erlö-sungswerk unter dem Bild des die Menschen von ihren Sünden reinigenden Blutes Christi sieht. Aus Liebe am Kreuz für sie vergossen, stillt es Gottes Zorn, tilgt die sündlichen Flecken, hilft die Feinde überwinden. Ansätze zu einer solchen Sicht finden sich im Neuen Testament, wie das Zitat aus dem 1. Johannesbrief zeigt, das Johann Michael Bach in ein-drücklicher Weise vertont hat, und die Linie lässt sich über das Mittelalter bis in die Barock-zeit hinein verfolgen. In diesen grossen Zusammenhang gehört auch der schlesische Dichter-pfarrer Johann Heermann, der sich beim Dichten seiner Lieder gerne von Augustinus und von den mittelalterlichen Mystikern Bernhard von Clairvaux und Johann Tauler anregen liess. So auch in seinem Lied "Wo soll ich fliehen hin?", das in der lutherischen Kirche eines der Hauptlieder des 19. Sonntags nach Trinitatis war und deshalb im Jahr 1724 der für diesen Sonntag komponierten Choralkantate BWV 5 zu Grunde gelegt wurde. Wie üblich wurden die Anfangs- und die Schlussstrophe im Wortlaut beibehalten, während ein unbekannter Dichter die dazwischen liegenden Strophen in Rezitative und Arie umwandelte, dies zum Teil wegen der Länge des Liedes in geraffter Form. Wie das Lied, so ist auch die Kantate ganz von dem einen Gedanken der erlösenden Kraft des Blutes Christi geprägt. In reicher Bilder-sprache, die voller Anregung für den Komponisten ist, wird dieses Blut geschildert als gött-liche Quelle, als blutiges Strömen, als offenes Meer, rettend aber auch in jedem einzelnen Tropfen.

Bachs Kantate BWV 5 ist symmetrisch gebaut, indem in ihr die Choralmelodie am Anfang, in der Mitte und am Schluss erklingt. Im Eingangssatz wird sie vom Chor gesungen. Die erste Liedzeile und deren Umkehrung in der zweiten Zeile werden aber unablässig auch vom Orchester zitiert, so dass die drängende Frage ?Wo soll ich fliehen hin, weil ich beschweret bin?" ständig präsent ist. Im Altrezitativ Nr. 4 wird sie instrumentaliter von der Oboe vor-getragen zu einem Text, in dem die Wende zu einem neuen, für den Gläubigen angstfreien Leben thematisiert wird. Am Schluss rundet sie die Kantate ab. Zwischen diesen vom Choral bestimmten Teilen erklingen - spiegelbildlich um das Rezitativ Nr. 4 gruppiert - jeweils ein Rezitativ und eine Arie (Nr. 2 und Nr. 3) bzw. eine Arie und ein Rezitativ (Nr. 5 und Nr. 6), in denen allen die Grundthematik der Kantate vom erlösenden Blut Christi entfaltet wird. Es sei hier besonders auf die beiden Arie mit ihrem je eigenen Charakter hingewiesen. So wird in der Arie Nr. 3 das Ergiessen der göttlichen Quelle mit Sechzehnteln dargestellt, die sich durchlaufend in der Soloviola und bei entsprechenden Wörtern wie strömen, wallen, waschen auch in der Tenorstimme finden. Auch die Tonsprache der Bassarie Nr. 5 ist leicht zu ver-stehen. In ihr spielt eine Trompete mit, deren typische Motive zum Verstummen des Höllen-heers und im Mittelteil zu einem mutigen "Es ist in Gott gewagt" aufrufen. Siebenmal wird dieser wichtige Satz wiederholt, wobei beim letzten Mal das Wort "Gott" verlängert wird und das Wörtlein "gewagt" durch eine Achtelpause vom Rest des Satzes abgehoben und dadurch - voll Trotz gegen die Feinde - hervorgehoben wird. Dieser Ausruf lässt an den geheilten Gichtbrüchigen denken, der von Sündenlast und Krankheit befreit ein neues Leben beginnt.

Dr. theol. Helene Werthemann