Bachkantaten in der Predigerkirche
   
     

 

   

Zur Besetzung
Es gehört zum Konzept der Bachkantaten in der Predigerkirche, die Gesangs- und Instrumentalpartien in der Regel nur einfach zu besetzen. Dabei stützen wir uns auf die Untersuchungen von Joshua Rifkin (1985) und Andrew Parrott (2000), die für den grössten Teil der Kantaten Bachs solche (Chor-)Besetzungen recht eindeutig nachweisen können. Dennoch gibt es Ausnahmen: Kantaten, in denen Bach die Chorpartien in tutti und solo differenziert und demnach mit Ripienostimmen rechnet. Zu den vier Concertisten (Solosängern) treten vier bis acht Ripienisten hinzu. Entsprechend sind auch die Streicherstimmen verdoppelt bzw. verdreifacht. Dies ist bei beiden heute erklingenden Kanaten der Fall. Wir sind dankbar, dass wir für diesen Anlass die Basler Vokalsolisten gewinnen konnten (Leitung Sebastian Goll). Während die einfache Besetzung durch ihre kammermusikalische Flexibilität und Durchhörbarkeit besticht, scheint die doppelte bzw. dreifache Besetzung gerade für Kantaten mit längeren Chorpartien besonders gut geeignet. Im Rahmen unserer Kantatenreihe wird sie jedoch aus konzeptionellen und organisatorischen Gründen eine Ausnahme bleiben.

Gott ist mein König
Nach seiner Zeit in Arnstadt war Bach 1707/8 Organist in der freien Reichsstadt Mühlhausen. Obwohl er dazumal nicht als Kantor angestellt war, komponierte er für manche Gottesdienste und herausragende Anlässe auch Figuralmusik. Ein solcher Anlass war der alljährlich gefeierte Ratswechsel.

Auf Kosten des Rates konnte Bach seine am 4. Februar 1708 in der Hauptkirche zu Mühlhausen erstmalig erklingende Kantate "Gott ist mein König" (BWV 71) drucken lassen. Dabei ging es wohl mehr um die Repräsentation des Rates als um Bachs Musik. Gedruckt wurden die Einzelstimmen, dazu zwei Blätter im gleichen Format mit dem Titel und dem Text der Kantate. Auch ein Jahr später, bereits von Weimar aus, schrieb Bach eine weitere Ratswechselkantate, von der allerdings nichts mehr erhalten ist. "Gott ist mein König" ist somit nicht nur die erste zu seinen Lebzeiten gedruckte Komposition, sondern auch die einzige gedruckte Kantate Bachs. Der Textdruck nennt sie "Glückwünschende Kirchen Motetto in vier Chören". Textgrundlage ist der 74. Psalm und weitere alttestamentliche Zitate, die auf den Wechsel zwischen dem alten und dem neuen Rat anspielen. Der im letzten Satz angeredete Joseph ist hier keine biblische Figur, sondern der Kaiser Joseph I., dem Mühlhausen unterstand.

Bach disponiert dem Anlass entsprechend einen grossen Klangkörper und teilt ihn auf in vier Instrumentalchöre (Trompeten, Oboen+Fagott, Streicher, Blockflöten+Cello) und einen Vokalchor, der in sich in tutti und solo differenziert ist. Dazu tritt die Orgel gewissermassen als 7. Chor und übernimmt in zwei Sätzen solistische Aufgaben. Möglicherweise war Bach hierzu inspiriert von den mehrchörigen Konzerten, die er kurz zuvor in Lübeck von Dietrich Buxtehude gehört hatte (Konrad Küster 2000). Die ganze Kantate entspricht vom Textaufbau her einem älteren Kantaten- oder Motettentypus mit aneinander gereihten Elementen. Sie wirkt in ihrer mehrchörigen dialogischen Struktur und durch die häufigen, von Bach vorgeschriebenen Tempowechsel frisch und ungewohnt im Vergleich mit späteren, gesetzteren Formen. Umso überraschender ist es, in etlichen Sätzen schon da-capo-artige Rückbezüge zu entdecken, die nicht nur ein kurzes Ritornell wiederholen, sondern einen festeren Konstruktionsrahmen nach der Form A-B-A bilden, z.B. in Satz 1 "Gott ist mein König", Satz 4 "Tag und Nacht" und Satz 5 "durch mächtige Kraft".

Besondere Beachtung verdient die Fuge innerhalb des 7. Satzes. Sie beginnt als nur von der Orgel begleitete Chorfuge. Jede Stimme durchschreitet vier Kontrapunkte, bis sie wieder schweigt. Nach und nach treten die Instrumentalstimmen und der volle Chor hinzu, bis der Trompetenchor mit einem fünften Themeneinsatz das krönende Ende einleitet. Bach schliesst den Chor mit einem vollstimmigen C-Dur Akkord auf das Wort "grosser Sieg". Darauf lässt er das Anfangsmotiv der aufsteigenden Quarte "Glück, Heil" echoartig durch alle vier Instrumentalchöre wandern und der 20-stimmige Satz schliesst einstimmig - als wollte Bach augenzwinkernd die etwas pompöse ratsherrliche Festmusik gleich wieder auflösen. Es wäre nicht das erste und letzte Mal gewesen, dass Bach sich mit den politischen Behörden angelegt hätte...

Wir danken dir, Gott, wir danken dir
Auch diese Kantate wurde für die Ratswahl komponiert, und zwar für den Rat der Stadt Leipzig. Nach der Erstaufführung am 27. August 1731 verwendete Bach das Werk anlässlich weiterer Ratswechsel (1739 und 1749). Der Text des Eingangschors stammt aus Psalm 75, 2. Die folgende Zeilen sind eine freie Dichtung ohne direkte Bibelzitate, jedoch mit Anspielungen auf Parallelen zwischen der himmlischen und der irdischen Stadt (Zion - Leipzig), Gottes Schutz und der weltlichen Regierung, seinem Volk und den Bürgern. Bach schliesst mit einem Choralvers ab, der heute noch oft gesungenen 5. Strophe von "Nun lob mein Seel' den Herren". Dieser Choralbezug schafft eine gewisse Objektivität zum konkreten Anlass eines Ratswechsels und macht aus der Perspektive eines gläubigen Menschen deutlich, dass die weltliche Macht genauso wie jeder Christenmensch des Schutzes Gottes bedarf.

Die Sinfonia geht zurück auf den Eröffnungssatz der E-Dur-Partita für Violine solo (BWV 1006), den Bach in Köthen komponiert hatte. Für die Trauungskantate BWV 120a hatte er diesen Satz bereits für Orgel und Streicher transkribiert; der Bläsersatz kam 1731 dazu. Das Orchester unterstützt die harmonische Progression und markiert im Wesentlichen die Kadenzen. Dadurch wird es möglich, die vorwärtsstürmende Kraft des nahezu 140 Takte lang andauernden perpetuum mobile wahrzunehmen und trotzdem klare Strukturen herauszuhören. Auch der zweite Satz geht - wie die neuere Bachforschung vermutet - zurück auf eine vor 1731 entstandene, aber verschollene Komposition, die zwei Jahre später dann dem "Gratias agimus und "Dona nobis pacem" der Messe h-Moll als Vorlage diente. Es handelt sich um eine wunderbar strömende Chorfuge im sogenannten stile antico, einer Kompositionsart auf der Basis des alten 'klassischen' Kontrapunkt à la Palestrina, die zudem meistens in halben Notenwerten, also alla breve notiert ist. Der vierstimmige, stark kanonische Chorsatz wird von den Streichern und Holzbläsern colla parte mitgespielt. Durch die nach und nach hinzutretenden Trompeten wird der Satz zur Siebenstimmigkeit erweitert. Das so entstehende Crescendo macht die Aussage des Textes sinnfällig: Mehr und mehr Menschen stimmen in den Dank ein, die Verkündigung breitet sich aus.

Halleluja, Stärk' und Macht
Die folgende konzertante Tenorarie "Halleluja, Stärk' und Macht" mit Solovioline und Basso Continuo bildet einen starken Kontrast zu den beiden Eingangssätzen. Nach einem instrumentalen Eingangsritornell greift der Tenor die Motive der Geige auf; es entwickelt sich ein dialogischer Satz mit schnellen Imitationen. Beide Stimmen scheinen um die "Kunst des Lobens" zu wetteifern, wobei die Gesangsstimme nicht von äusserst virtuosen und eher instrumentalen Figuren verschont bleibt. Ein kurzes Bassrezitativ leitet über zu einem wunderbaren Siciliano für Sopran, Oboe und Streicher, der einzigen Mollarie in dieser Kantate. Die Oboe verdoppelt über weite Strecken den Sopran und unterstreicht den flehenden, bittenden Gestus dieses Satzes. Das folgende Alt-Rezitativ wird durch einen überraschenden Einwurf des Chores ("Amen") abgeschlossen und führt nahtlos in die letzte Arie "Halleluja, Stärk und Macht". Dabei verwendet Bach die konzentrierte Essenz von Satz 3, indem er ohne Vorspiel direkt in medias res geht und auch den B-Teil der Da Capo Arie weglässt. Anstelle des Tenors und der Violine musizieren jetzt der Alt und die obligate Orgel.

Der Schlusschoral erklingt wieder in der Tutti-Besetzung des Eingangschores. Die Zeilenenden werden jeweils durch fanfarenartige Einwürfe des Trompetenensembles markiert und klanglich überhöht - ein überaus festlicher und erhebender Effekt, der wohl auch die nüchternsten Ratsmitglieder an jenem 27. August 1731 in der Nikolaikirche in Leipzig nicht kalt gelassen, sondern bei ihnen ein leises Gefühl des Stolzes auf ihren Kantor entlockt haben mag.

Jörg-Andreas Bötticher

 


















J.S. Bach, Autographes Titelblatt zu BWV 71,
Staatsbibliothek Berlin