Bachkantaten in der Predigerkirche
 

Herr Jesu Christ, du höchstes Gut!
Im Evangelium des 11. Sonntags nach Trinitatis wird das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner verlesen (Lukas 18,9-14). Es ist die Geschichte von den beiden Möglichkeiten, betend vor Gott zu treten: selbstgerecht wie der Pharisäer oder demütig wie der Zöllner, dessen Gebet sich in den Worten: "Gott, sei mir Sünder gnädig" erschöpfte. Die Kantate BWV 113 "Herr Jesu Christ, du höchstes Gut" ist unter Verzicht auf eine Nacherzählung des Sonntagsevangeliums ganz dieser zentralen Aussage verpflichtet. Es ist eine Choralkantate, die am 20. August 1724 zum ersten Mal aufgeführt wurde. Das ihr zu Grunde liegende Lied stammt von Bartholomäus Ringwaldt; es trägt die Überschrift: "Ein fein Lied um Vergebung der Sünden". Der Umdichter des Liedes ist unbekannt. Er muss aber um die Bedürfnisse des Komponisten gewusst haben, und so hat er ihm alle Gestaltungsmöglichkeiten angeboten, d. h. der Wortlaut des Chorals wurde entweder beibehalten, was auch Beibehaltung der Choralmelodie bedeutete, oder wurde durch interpretierende Texte erweitert oder in frei zu vertonende Rezitative und Arien umgeformt. Erstaunlich häufig sind in diesen Rezitativen und Arien Anklänge an wichtige Bibelstellen zu finden, so vor allem in der Tenorarie Nr. 5 und im Rezitativ Nr. 6 ("Jesus bzw. der Heiland nimmt die Sünder an"), die dann auch von Bach besonders hervorgehoben wurden. Dabei ist der Schluss der Arie Nr. 5 "Dein Sünd ist dir vergeben" bemerkenswert. Bach verwendet dafür nämlich zweimal die letzte Zeile der Choralmelodie und unterstreicht dadurch die Bedeutung dieser biblischen Aussage, die aber im Choral selbst wörtlich so gar nicht vorkommt. Besonders intensiv vertont ist auch die Stelle im Tenorrezitativ Nr. 6: "Er ruft: kommt her zu mir, die ihre mühselig und beladen, kommt her zum Brunnquell aller Gnaden, ich hab euch mir zu Freunden auserkoren", in der Bibelworte aus Matthäus 11,28 und Johannes 15,14   anklingen.

Rudolf Wustmann hat in seiner Ausgabe von Bachs Kantatentexten im Jahr 1914 zur   Kantate BWV 113 gesagt, sie sei eine Busskantate im Anschluss an ein Gemeindelied, das sich von Anfang an an Christus als Befreier vom Sündenbewusstsein wende.   Das spiegelt sich nun auch in Bachs Vertonung wider. Auch wenn der Satz Nr. 4 mit einem eine Wende anzeigenden "Jedoch" beginnt, so will das nicht heissen, dass vorher pure Verzweiflung geherrscht hätte. Der Eingangschor und die nachfolgende Choralbearbeitung für Alt und Streicher strahlen vielmehr etwas Tröstliches aus, und die im 12/8-Takt stehende Bassarie Nr. 3, in der zwei Oboi da caccia mitspielen, ist geradezu fröhlich, das nachfolgende "Jedoch" vom tropierten Choral Nr. 4 bereits vorwegnehmend. Umgekehrt kann aber, auch wenn die Sündenvergebung in Satz 5 und 6 ausdrücklich erfolgt ist, im Duett Nr. 7 "Ach Herr, mein Gott, vergib mirs doch" erneut flehentlich um Vergebung und Befreiung vom Sündenjoch gebeten werden, übrigens mit einem an das 17. Jahrhundert erinnernden Satz eines geringstimmigen Instrumentalkonzertes, in dem die Choralmelodie stark präsent ist. Vielleicht darf man im Blick auf die Gesamtform der Kantate sagen, dass Bach im Anschluss an die Textvorlage auf einen grossen Bogen verzichtet, dafür aber sehr genau die einzelnen Aussagen an ihrem konkreten Ort in Musik umgesetzt hat. Immer wieder lenkt er dadurch die Aufmerksamkeit auf bestimmte Seelenzustände und lässt die entsprechende Stimmung wach werden, so besonders eindrücklich die in der Arie Nr. 5 erwähnte "wahre Seelenruh".

Stärk mich mit deinem Freudengeist
Im Duett Nr. 7 wird um die Zufriedenheit des Herzens gebeten und um ein Leben in kindlichem Gehorsam hinfort zum Preis und Ruhm Gottes als Auswirkungen der freimachenden Sündenvergebung durch Gott. Der Schlusschoral, von Bach kunstvoll vierstimmig gesetzt, nimmt diesen Gedanken auf und weitet schliesslich den Blick in den Himmel.

Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei wie mein Schmerz!
Im Evangelium des heutigen 10. Sonntags nach Trinitatis aus Lukas 19, 41- 48 wird erzählt, wie Jesus über Jerusalem geweint, die Zerstörung der Stadt vorausgesagt und schliesslich die Händler aus dem Tempel vertrieben hat. Im Zentrum steht dabei das Schicksal Jerusalems, und so wurde im lutherischen Gottesdienst während Jahrhunderten im Anschluss an das Evangelium der Bericht des Geschichtsschreibers Flavius Josephus von der tatsächlichen Zerstörung Jerusalems unter Titus im Jahr 70 verlesen. Dies wurde als Erfüllung der von Jesus ausgesprochenen Untergangs-Prophezeiung verstanden, und nahe lag da die Gefahr eines antisemitischen Missverständnisses der Geschichte.

Auch in der von einem unbekannten Dichter stammenden Kantate BWV 46, die Bach 1723 in seinem ersten Leipziger Amtsjahr vertont hat, geht es um das Schicksal Jerusalems. Die Kantate beginnt mit einem Zitat aus den Klageliedern des Propheten Jeremia, einem Text, der entstanden war, als Jerusalem von den Babyloniern, also schon lange vor den Römern, erobert und zerstört worden war. Zum Jammer über die Verwüstung der einst so herrlichen Stadt kommt in diesen Klageliedern die Überzeugung zum Ausdruck, dass der Untergang der Stadt als Strafe Gottes für die menschliche Schuld zu verstehen sei. Gottes Geduld ist am Ende, die Stadt dem Untergang geweiht, und darüber kann sie nur in Klage ausbrechen. Dieser Thematik sind die Sätze 1, 2 und 3 der Kantate 46 gewidmet. Den Anfang macht ein grossangelegter Chor über den Text aus Klagelieder 1,12, den Bach nach einer einleitenden Sinfonie zweiteilig vertont hat. Auf   einen freipolyphonen Satz ("Schauet doch und sehet") folgt eine Fuge ("denn der Herr hat mich voll Jammers gemacht"), wobei es bemerkenswert ist, dass Bach diesen Eingangschor mit einem reichhaltigen Instrumentarium versehen hat, nämlich mit zwei Blockflöten, einer Zugtrompete und zwei Oboi da caccia, was für einen festlosen Sonntag eher ungewöhnlich ist. Den ersten Teil des Satzes hat Bach übrigens später für das "Qui tollis peccata mundi" der h-moll-Messe verwendet. Auch die Sätze 2 und 3 bleiben noch ganz beim Thema der zerstörten Stadt Jerusalem und vor allem bei der menschlichen Schuld als Grund dafür. Beim ausinstrumentierten Tenorrezitativ Nr. 2 spielen die beiden Blockflöten mit, vielleicht die Bäche der Tränen darstellend, von denen der Text redet. In der Arie Nr. 3 gesellt sich dann zur Bassstimme die Trompete, göttliche Hoheit und Jüngstes Gericht symbolisierend. Diese Arie bildet den dramatischen Höhepunkt der Kantate, und die barocken Bilder vom losbrechenden Gewitter und vom Blitzstrahl der göttlichen Rache für überhäufte Sünden haben Bach zu kühnen Harmonien angeregt.   

Und jetzt die doppelte Wende mit einem zweimaligen Doch ...
Konnte das Bisherige fast ausschliesslich auf die jüdische Stadt Jerusalem bezogen werden, so folgt im Altrezitativ Nr. 4 nun abrupt die konkrete Anwendung auf die Menschen der Gegenwart. Es geschieht dies mit einem Jesuswort aus dem Lukasevangelium (13,1-5), in dem Jesus im Anschluss an getötete Galiläer und an von einem Turm erschlagene Menschen sagte, diese seien nicht schuldiger gewesen als andere: "Nein, sondern so ihr euch nicht bessert, werdet ihr alle auch also schrecklich umkommen." Kurz und bündig wird dieser Text von Bach in einem Secco-Rezitativ vertont. Dann aber erfolgt - ebenfalls von der Altstimme gesungen - sofort eine zweite Wende mit einem zweiten Doch, durch das die Rettungsmöglichkeit aufgezeigt wird: "Doch Jesus will auch bei der Strafe der Frommen Schild und Beistand sein." Bach wird durch diese Aussage zu einer lieblichen Arie mit Blockflöten angeregt, in der die Instrumentalbässe schweigen. An der Stelle des Continuos spielen die Oboi da caccia - damals Bassettchen genannt, was bei Bach immer eine besondere Bedeutung hat und hier vielleicht, wie Alfred Dürr meint, zur Charakterisierung der Unschuld der Frommen angewendet ist. Auch der Schlusschoral weist auf den Sühnetod Christi als Mittel zur Stillung von Gottes Zorn hin: "So sieh doch an die Wunden sein, sein Marter Angst und schwere Pein; um seinetwillen schone, uns nicht nach Sünden lohne." Mit den Zeilenzwischenspielen der Blockflöten greift Bach auf den Eingangschor zurück, und mit der Molltonart (g-moll) bleibt die Stimmung verhalten.

Dr. theol. Helene Werthemann