Bachkantaten in der Predigerkirche
 

Johanni
Der Johannistag, 24. Juni, ist aus mehreren Gründen ein bemerkenswerter Punkt im Jahreskreis: In der christlichen Tradition wird dann die Geburt Johannes des Täufers gefeiert. Johannes wird als Vorläufer Christi gesehen. Seine Aussage (Joh. 3, 30), "er muss wachsen, ich aber muss abnehmen" versteht die alte Kirche mindestens auf zwei Ebenen: Einerseits auf spiritueller, andererseits im Hinblick auf den Gang von der Sommer- zur Wintersonnenwende auch auf kosmologischer Ebene. Das äussere Licht (Johannes) verschwindet bis das innere Licht (Christus) ganz hell wird und sich als die eigentliche Sonne zeigt (sol invicta). An Johanni wird in katholischen Gottesdiensten zudem bis heute der Johannes-Hymnus gesungen:

Ut
queant laxis re sonare fibris mi ra gestorum fa muli tuorum sol ve polluti la bii reatum Sancte Johannes

(wörtlich übersetzt: Auf dass die Schüler mit lockeren Stimmbändern mögen zum Klingen bringen können die Wunder deiner Taten, löse die Schuld der befleckten Lippe, heiliger Johannes).
Von diesem Hymnus ist spätestens seit Guido von Arezzo (um 1000 n.C.) die Solmisation, das abendländische Notensystem schlechthin abgeleitet. Um diesen Tag entfaltete sich gerade in deutschsprachigen Ländern ein - heute wieder aufflackerndes - vielfältiges Volksbrauchtum, von Johannisbeeren, Johanniskrautöl, Johannisbroten über Johannismännchen (in Leipzig) bis zu Johannifeuern. Auch in Leipzig bestand das Johannisfest noch lange nach der Reformation.

Freue dich, erlöste Schar
Für den 24. Juni sind uns drei Kantaten von J.S. Bach erhalten: BWV 167 (in dieser Reihe am 10. Juni 07 erklungen), BWV 7 und BWV 30, "Freue dich, erlöste Schar". Diese Kantate geht zurück auf die weltliche Kantate "Angenehmes Wiederau" (BWV 30a), welche Bach am 28.9.1737 zu Ehren des Herrn von Wiederau, Johann Christian von Hennicke, aufgeführt hatte. Das Libretto ist von Christian Friedrich Henrici alias Picander. Die neuere Bachforschung vermutet, dass die doppelte Textierung (weltlich-geistlich) von vornherein mitgedacht war und vielleicht auch unter Mitwirkung von Picander entstanden ist. So konnte Bach mit relativ kleinem Aufwand die weltliche Kantate im nächsten Jahr umformen und als Johannismusik am 24. Juni 1738 in Leipzig aufführen. Einzig die Rezitative und einen Choralsatz komponierte er neu; die Trompeteneinwürfe in den Ecksätzen liess er weg. Dass die geistliche Fassung die weltliche in ihrer Ausdruckskraft noch übertreffe, wie oft von Bachs Parodien gesagt wird, kann hier nicht durchwegs bestätigt werden. Im Gegenteil, es gibt einige Stellen, die eindeutig schlechtere Affektbezüge ausdrücken als in ihrer (weltlichen) Urform, wie z.B. die Arie Nr. 8. Weltlich lautet sie:
Ich will dich halten und mit dir walten, wie man ein Auge zärtlich hält.

Geistlich:
Ich will nun hassen und alles lassen, was dir, mein Gott, zuwider ist.

In beiden Versionen ist das Willenselement durch starke und wiederholte Schleifer sehr präsent und entspricht dem Satzanfang. Die lang ausgehaltene Note auf das Wort "lassen" (BWV 30) wirkt jedoch wenig überzeugend, wenn man die erste Vertonung kennt, in der der Sänger trefflich auf das Wort "halten" den Ton aushält (BWV 30a). 1737/38 war Bach immer noch in den sogenannten Präfektenstreit mit seinem Rektor Johann August Ernesti involviert; daneben konzentrierte er sich auf die Arbeiten am II. Teil des Wohltemperierten Claviers und am III. Teil seiner Clavier-Übung, die dann 1739 im Druck erschien. Ausserdem hatte er wohl nicht wenig Sorgen um seinen 23jährigen Sohn Johann Gottfried Bernhard, der mit unbekanntem Ziel verschwunden war, wie ein Brief   Bachs vom 24. Mai 1738 zeigt. Und in dieser Situation jetzt mal schnell noch eine Johanniskantate schreiben?! So scheint es nachgerade beruhigend, zu sehen, dass Bach 'kompositorisches Recyceln' nicht à priori ausschloss und sicher froh war, für manche kirchenmusikalische Situationen schnelle und pragmatische Lösungen zur Hand zu haben.

Galanter Gestus
Diese leichte Einschränkung soll aber nicht davon abhalten, den überraschend galanten Gestus dieser späten Kantate zu entdecken. Schon der Eingangschor schwingt tänzerisch-angenehm in einem synkopischen Rhythmus; die Phrasen sind ganz regelmässig 4-8taktig; es entsteht eine Rondoform (ABABA) mit 160 Takten. In den weiteren Sätzen verwendet Bach häufig unterschiedliche Notenwerte nebeneinander. Insbesondere die Kombination mit triolischen Rhythmen und präzisen Artikulationsangaben weist auf die Beschäftigung Bachs mit der galanten und empfindsamen Schreibart, die er durch seine Söhne oder auch durch Konzert- und Opernbesuche in Dresden mitbekommen hat.

Barmherziges Herze der ewigen Liebe
Für den 4. Sonntag nach Trinitatis schrieb Bach bereits in Weimar die Kantate BWV 185, "Barmherziges Herze der ewigen Liebe". Der Text stammt aus Salomon Francks "Evangelischem Andachtsopfer" (1715), einer Sammlung, der Bach für acht weitere Kantaten Texte entnahm. Die erste Aufführung erklang am 14. Juli 1715; mindestens drei weitere Aufführungen in z.T. veränderten Fassungen sind für Weimar und Leipzig belegt. Wir folgen heute der ersten Weimarer Fassung.

Arkadisches Liebesduett
Die Kantate wird recht schlicht vom Basso Continuo mit einer sicilianoartigen Bewegung eröffnet. Die Form des Siciliano deutet in der Bachzeit oft auf ein ideelles Arkadien, d.h. im geistlichen Sinn einen paradiesischen Zustand, die göttliche Liebe. Sie wird hier - naheliegend als Liebesduett - von Sopran und Tenor besungen. Nach wenigen Takten beginnt der Basso Continuo mit nahezu pausenlos laufenden Achtelketten und unterstreicht damit die Textaussage: "Liebe, errege, bewege mein Herze; zerschmelze mich." Darüber spielt die Oboe in lang auseinander gezogenen Zeilen die Choralmelodie des Schlusschorals: "Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ." Im nachfolgenden Accompagnato-Rezitativ ist der Text der Sonntagslesung (aus der Bergpredigt, Lk. 36-42) dicht gedrängt und mit (aus heutiger Sicht) moralisierendem Akzent dargestellt. Die Aussage, "wie ihr messt, wird man euch wieder messen" ist rhetorisch einleuchtend als strenges Fugato dargestellt. Satz drei ist eine Aufforderung an die Seele, "reichlich auszustreuen", also im Sinne der Bergpredigt im praktischen Leben Liebe zu üben. Zwei Bewegungen sind in dieser virtuosen   Altarie musikalisch-gestisch klar umgesetzt: Das "Ausstreuen" (Schleifer-Figuren in verschiedene Richtungen) und das grosszügige Überschäumen der Freude bzw. der "reichen Ewigkeit" (lange Koloraturen).

Nächstenliebe als Kunst der Christen
Nach Sopran, Tenor und Alt kommt jetzt der Bass zum Zug. Bemerkenswert sind die genauen Besetzungs- und Aufführungsangaben für dieses Rezitativ (Satz 5): Nicht nur Orgel und Violoncello begleiten den Basssänger, sondern die volle Continuogruppe, wobei das Fagott die Bassnoten nur kurz anspielt. Diese Klanggruppe begleitet auch den Basssänger in der folgenden Arie, die in engmaschiger Fugatotechnik fast rein syllabisch konstruiert ist. Devisenartig wird das Thema am Ende und am Schluss jeder Textzeile wiederholt: "Das ist der Christen Kunst." Die konzentrierte motivische Verarbeitung entspricht offensichtlich in übertragenem Sinn der im Text geforderten Kunstfertigkeit christlichen Verhaltens. Im Schlusschoral ist dann zum ersten Mal das ganze Ensemble zu hören; dabei weist Bach der ersten Violine eine figurierte Oberstimme zu.

Jörg-Andreas Bötticher