Bachkantaten in der Predigerkirche
 

Am 22. Mai 1723, einem Samstagmittag, kamen in Leipzig
"4. Wagen mit Haus-Rath beladen von Cöthen allhier an, so dem gewesenen dasigen Fürstl. Capell-Meister, als nach Leipzig vocirten Cantori Figurali, zugehöreten; Um 2. Uhr kam er selbst nebst seiner Familie auf 2 Kutschen an, und bezog die in der Thomas-Schule neu renovirte Wohnung."  Nur eine Woche später, am 30. Mai, führte Johann Sebastian Bach seine erste Kantate in der Leipziger Nikolaikirche auf, "Die Elenden sollen essen" (BWV 75). Vermutlich hatte er diese Kantate noch in Köthen komponiert und so, trotz den mit dem Umzug verbundenen Umtrieben und im Vergleich mit den folgenden Jahren, viel Zeit zur Komposition gehabt. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der außergewöhnlich großformatigen Anlage der Kantate in zwei Teilen mit insgesamt 14 Sätzen sowie einer Reihe von kompositorisch-musikalischen Besonderheiten, die sicher auch sein Können in einer repräsentativen 'Antrittskantate' zeigen sollten.

    Der Text des Evangeliums für diesen 1. Sonntag nach Trinitatis bietet das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus (Lukas 16, 19-31), ja eine etwas rachsüchtige Erzählung (so die Worte an den in der Hölle schmorenden Reichen: "Gedencke Son / das du dein gutes empfangen hast in deinem Leben / vnd Lazarus da gegen hat böses empfangen / Nun aber wird er getröstet / Vnd du wirst gepeiniget."). Der unbekannte Librettist konzentrierte sich auf den Gedanken des vergänglichen irdischen Reichtums und den durch ein gottgefälliges Leben zu erreichenden ewigen Gewinn: Während der erste Teil der Kantate diese Botschaft sehr explizit ausführt, behandelt der zweite Teil das Problem der 'geistigen Armut' und wie diese durch Hingabe an Jesu überwunden wird. Zentral ist dabei der Choral (von Samuel Rodigast von 1674), "Was Gott tut, das ist wohl getan", der am Ende eines jeden Teils erklingt. Bach nutzt diesen Choral nicht nur zur Verklammerung beider Teile, sondern auch für die Ableitung musikalischer Themen in den Arien.

    Am Beginn steht der Psalmvers "Die Elenden sollen essen, daß sie satt werden, und die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen." (Ps. 22, 27), den Bach im Stil einer prunkvollen französischen Ouverture mit ihren markanten punktierten Rhythmen vertonte (mit einer Chorfuge im geradtaktigen zweiten Teil). Man kann vermuten, daß er nicht zufällig gerade eine Ouverture für den Beginn seiner Leipziger Tätigkeit wählte. Das folgende Secco-Rezitativ (mit auskomponierter Streicherbegleitung) benennt die Vergänglichkeit alles Irdischen und verwendet dabei Begriffe, die in der anschließenden Arie ("Mein Jesus soll mein alles sein") aufgegriffen und umgedeutet werden: Aus des 'Purpurs Majestät' wird 'Jesu Blut', anstelle des materiellen Reichtums tritt Jesus selbst und aus dem weltlichen 'Kützel eitler Sinnen' wird nun Jesu Liebesglut. Musikalisch setzt Bach die Arie für Oboe und Streicher in einer pastoralen Stimmung. Die beiden folgenden Sätze (Rezitativ und Arie "Ich nehme mein Leiden mit Freuden auf mich") verweisen auf das Lazarusgleichnis und ziehen die moralische Lehre: Das klaglose Leiden wird schließlich belohnt werden. Der dunkle Klang der Oboe d'amore, die eine Terz unter der normalen Oboengröße steht - übrigens ein seinerzeit neues Instrument, das Bach sicher auch wegen seiner Novität einsetzt - und die a-Moll-Klanglichkeit betonen dabei wohl mehr das Leiden, der tänzerische Rhythmus und die langen Koloraturketten des Soprans vielleicht die verheißenen Freuden. Der abschließende Choral "Was Gott tut, das ist wohlgetan" wird durch ein kurzes Rezitativ eingeleitet, das sowohl den Tod selbst als Erfüllung des Willens Gottes benennt wie durch die Worte "so ist es doch am Ende wohlgetan" die folgende Choralzeile vorwegnimmt. Der Sinn dieses Chorals wird mit seinen prächtigen Vor- und Zwischenspielen musikalisch gleichsam bestätigt.

    Auch der zweite Teil (nach der Predigt) beginnt mit diesem Choral, wird aber im Rahmen einer instrumentalen Sinfonia versteckt von einer (Zug-)trompete vorgetragen. Nach dem 'französischen' Beginn stellt sich nun ein eher 'italienischer' Charakter ein, Bachs Vertrautheit auch mit jenem Stil demonstrierend. Wollte man die insgesamt vier Arien, je eine für jede Stimmlage, Tanzstilen zuordnen, so könnte die Alt-Arie "Jesus macht mich geistig reich" einem Passepied zugeordnet werden, "von passer, fortgehen, vorüber gehen, und pié, der Fuß, ist ein gar geschwinder Frantzösischer Tantz" (so J. G. Walther 1732). Den musikalischen Höhepunkt erreicht die Kantate dann mit der Baßarie "Meine Herze glaubt und liebt". Hier setzte Bach die außergewöhnlichen Künste des Leipziger Stadtpfeifers Gottfried Reiche ein, dem er eine virtuose Partie in Clarinlage zuwies. Musikalisch steht die Trompetenpartie vielleicht für den Klang der Trompeten des Jüngsten Gerichts, hier allerdings im Sinne eines Siegesklangs. Als Bestätigung erklingt zuletzt wieder der Choral. Bach zeigte bei seinem Einstand sein ganzes Können, in einer klaren Proportionierung der Teile, einer musikalischen Stützung und Deutung der Textaussagen bei einer breiten Palette musikalisch-stilistischer Mittel und nicht zuletzt dem wirkungsvollen Einsatz der zur Verfügung stehenden Musiker und Instrumente. So berichten die Quellen auch, die Kantate sei "mit gutem applausu" aufgeführt worden.

*

Nur vier Wochen nach dieser 'Antrittskantate' wurde BWV 167 aufgeführt, "Ihr Menschen, rühmet Gottes Liebe". Wie die mit geringerer Sorgfalt erstellten Manuskripte der inzwischen aufgeführten Kantaten zeigen, war Bach durch die wöchentliche Produktion von Kantaten zunehmend in Anspruch genommen. Zwangsläufig wurden die Kantaten im Umfang bescheidener - BWV 167 weist nur zwei Arien, zwei Rezitative und den Choral auf - und nun einteilig vor Glaubensbekenntnis und Predigt dargeboten. Nicht zuletzt diese Redimensionierung und wohl auch ein auffälliges Rezitativ ("Gelobet sei der Herr") führten sogar zu einer Geringschätzung dieses Werks (so etwa Philipp Spitta: "Eine Cantate von geringerer Bedeutung, die zu besonderen Bemerkungen kaum Veranlassung gibt."). Dem steht aber eine zeitgenössische Wertschätzung gegenüber: Nicht nur Bach selbst führte diese Kantate wieder auf, auch sein Sohn Wilhelm Friedemann in Halle.

     Geschrieben wurde die Kantate für das Fest Johannes des Täufers. Der Bibeltext für diesen Tag schildert die Geburt Johannes' und das Loblied seines Vaters, Zacharias (Lukas 1,57-80). Dieses Loblied ist auch das Hauptthema des Librettos und der Kantate: "Ihr Menschen, rühmet Gottes Liebe" (Tenor-Arie), "Gelobet sei der Herr Gott Israel" (Alt-Rezitativ) und der Schlußchoral, "Sei Lob und Preis mit Ehren". Vor dem Choral wird in einem Baß-Rezitativ auf den Bibeltext und Zacharias verwiesen, schließend mit der Zeile "und stimmet ihm ein Loblied an!". Und bei diesen Worten zitiert Bach den Beginn des nachfolgenden Chorals, dessen Melodie wiederum von einer Zugtrompete verdoppelt wird.

     Viel zu schreiben gab Musikwissenschaftlern das erste Rezitativ ("Gelobet sei der Herr ..."). Gleichsam wie ein 'normales' Secco-Rezitativ verläuft es bis zu den letzten beiden Zeilen ("mit Gnad und Liebe zu erfreun und sie zum Himmelreich in wahrer Buß zu leiten"), wo ein "adagio" einen völligen Charakterwechsel vom freien Rezitativ zu einem Arioso markiert: Die Continuo-Stimme erhält nun eine ausgeschriebene Baßlinie, die Singstimme wiederholt Textpassagen mehrfach und beide modulieren vor allem in weit entfernte Tonarten. Nur: Das gefährlich aussehende Notenbild - sogar mit einem Takt, in dem alle 12 Töne der Oktave vorkommen, weswegen die Forschung ein "Zwölftonfeld" avant la lettre entdeckt zu haben glaubte - ist im Hören viel weniger auffällig und vielleicht nur wegen stimmungsmäßiger Reibungen wahrnehmbar. Diese "ent-rückten" Klänge verweisen wohl mehr auf das ferne Himmelreich. Solche Beobachtungen können aber das Interesse Bachs und anderer an seiner angeblich nicht weiter bemerkenswerten Kantate erklären.

Martin Kirnbauer