Bachkantaten in der Predigerkirche
 

 

"Dem Menschen [...] ist allein vor den anderen Creaturen die stimme mit der rede gegeben, Gott mit gesengen und worten zugleich zu loben, Nemlich mit dem hellen predigen und rhümen von Gottes güte und gnade darinne schöne wort und lieblicher klang zugleich würde gehöret."

Mit diesen Worten stellt Martin Luther ebenso kurz wie bündig die Ebenbürtigkeit von gesprochenem und gesungenem Gotteslob im lutherischen Gottesdienst klar. Hatte das Konzil von Trient als eine der wesentlichen gegenreformatorischen Maßnahmen die Rolle der Kirchenmusik stark zurückgebunden, weil man durch sie eine von Glauben und Demutspflicht ablenkende Wirkung befürchtete, so öffneten Luther und seine Anhänger ihre Kirchentüren weit für "Frau Musica". Damit ermöglichten sie im Rahmen der evangelischen Vokalmusik die Entstehung eines immensen Repertoires von Motetten, Chorälen, Geistlichen Konzerten und Passionen auf deutschsprachige Texte, ein gewaltiges Crescendo, das in das "plein jeu" des Kantaten- Passions- und Oratorienschaffen von Johann Sebastian Bach mündete.  

Grundsätzlich hatten im lutherischen Gottesdienst der Pfarrer und der Kantor die gleiche Aufgabe - der eine predigte mit dem gesprochenen, der andere mit dem gesungenen Wort. Bach hat in einem berühmten Ausspruch seine Identität als musikalischer Prediger eindeutig bestätigt. Danach darf  "Finis und End Uhrsach" aller Musik "anders nicht als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths seyn. Wo dieses nicht in acht genommen wird da ists keine eigentliche Music sondern ein Teuflisches Geplerr und Geleyr."

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch (BWV 86)
Bachs musikalische Predigt "Wahrlich, wahrlich, ich sage euch" ist für den Sonntag Rogate geschrieben, der die Aufforderung "Betet!" ("Rogate!") zum Thema macht, und Bachs (unbekannter) Textdichter folgt in seiner Kantaten-Predigt zum 14. Mai 1724   dieser Aufforderung mit aller erdenklicher Konsequenz. Sie beginnt, wie es sich für eine Predigt gehört, mit einem Bibelwort aus dem zugehörigen Johannes-Evangelium 16, 23-30, wo berichtet wird, wie Jesus Abschied von seinen Jüngern nimmt. In dem von Bachs Textdichter gewählten Ausschnitt legt Christus den Jüngern ans Herz, sich nach seinem Weggehen mit ihren Bitten direkt an Gott zu wenden, er werde sie erhören. In Bachs Eingangssatz ist das Christuswort traditionsgemäß dem Bass anvertraut, der die imitatorische Schreibweise des instrumental vorgegebenen fugierten Satzes zusammen mit der Oberstimme aufnimmt und insgesamt drei Mal durchführt, wobei zweifellos der strenge Satz die Heiligkeit des Christuswortes und die dreimalige Durchführung die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist symbolisieren. (Eine kleine philologische Nebenbemerkung: Die instrumentale Besetzung der Oberstimmen ist nicht gesichert, weil die autographe Partitur aus dem Besitz des Bach-Sohnes Carl Philipp Emanuel zwar erhalten ist, aber für diesen Satz keine Besetzungsangaben liefert. Weil aber für den 3. Satz zwei Oboi d'amore vorgeschrieben sind, ist es sinnvoll, diese auch im Eingangssatz einzusetzen.) In der folgenden Arie reflektiert das dem Alt anvertraute christliche "Ich" an Hand des Bildes der dornenreichen Rose, die "Ich" nur mit Schmerzen brechen kann, die Zuversicht, dass Gott durch meine schmerzliche Ungewissheit hindurch mein Bitten und Flehen hören wird, "weil es mir sein Wort verspricht" - musikalisch als groß angelegte Da-Capo-Arie mit in reichem Passagenwerk brillierender Solovioline gestaltet. Der Text des nachfolgenden Chorals ist dem Lied "Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn" von Georg Grünwald (1530) entnommen, wiederum die Zuversicht thematisierend, dass Gott hält, was er verspricht. Der Sopran trägt den Choral in schlichter Rhetorik vor, umspielt von den beiden obligaten Oboi d'amore, die in imitatorischem Satz beschwingt im 6/8-Takt konzertieren. Der von einem Secco-Rezitativ eingeleitete 5. Satz bekräftigt einmal mehr Gottes Zuverlässigkeit, auch wenn die Hilfe auf sich warten lassen könne, wobei diese vertrauensvolle Zuversicht in helles E-Dur getaucht ist und durch den vielfach eingeworfenen Glaubenssatz "Gott hilft gewiss" ein nachdrückliches Echo findet. Die Predigt wird beschlossen mit der 11. Strophe aus dem Lied "Es ist das Heil uns kommen her" von Paul Speratus (1523), in der die Sänger im vierstimmigen Satz versichern, dass Gott seine Hilfe zum rechten Zeitpunkt schicken wird, denn "er weiß wohl, wenns am besten ist".


Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen (BWV 87)
Hatte Bach BWV 86 zum Sonntag Rogate seines ersten Leipziger Amtsjahres 1724 komponiert, so gehört "Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen" dem zweiten Kantatenjahrgang an und wurde am Sonntag Rogate, dem 6. Mai 1725 musiziert. Naturgemäß steht wieder das Thema des Betens im Mittelpunkt, es wird hier aber aus einer anderen Perspektive abgehandelt. War in BWV 86 Hoffnung und Zuversicht auf Gottes Hilfe Kernpunkt der Textaussage, so geht es hier um Unterlassung und um die damit verbundenen Schuldgefühle und Schmerzen, von denen der Christenmensch, im Gebet sich der Liebe Christi anvertrauend, erlöst zu werden hofft. Die Textdichterin ist diesmal bekannt, es ist die Leipzigerin Mariane von Ziegler (1695-1760), von der Bach insgesamt neun Kantatentexte vertont hat.

Der Evangelientext des 1. Satzes schließt direkt an denjenigen von BWV 86 an und mahnt die Jünger dazu, sich in Christi Namen betend an Gott zu wenden: "Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr nehmen, dass eure Freude vollkommen sei" (Joh. 16, 24). Christi Feststellung, die Jünger hätten aus Vertrauensmangel noch nie in seinem, in Christi Namen Gott um Hilfe gebeten, wird von der Dichterin als schwerer   göttlicher Tadel aufgefasst, vor dem sich das christliche "Ich" zerknirscht beugt. Vergleichbar dem Eingangsarioso der Schwesterkantate aus dem 1. Kantatenjahrgang beginnt der Satz mit einem zwischen Violinen und Oboen ausgetragenen Fugenmotiv, das der die Christusworte singende Bass aufnimmt, wobei er dem Vorwurf "Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen" durch vielfache Wiederholung und eine Vielzahl melodischer Wendungen zu äußerstem Nachdruck verhilft. Im Rezitativ erfolgt dann sogleich die Anklage, die auf Übertretung von Gesetz und Evangelium lautet, worauf in der nachfolgenden Da-Capo-Arie der Alt ein groß angelegtes Flehen um Erbarmen anstimmt. Zwei Oboi da caccia sorgen mit ihrer von Seufzer-Motiven durchwebten Diktion für eine dunkle Klangfärbung, in die sich die verhalten geführte Altstimme berührend einfügt. Die nicht ohne weiteres verständliche Textzeile "Ach, rede nicht mehr sprüchwortweis" nimmt eine aus dem Rogate-Evangelium stammende Äußerung Christi seinen Jüngern gegenüber auf, nach der er bislang in Bildern gesprochen habe, jetzt aber eine Zeit komme, "dass ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündige von meinem Vater" (Joh. 16, 25). Im nachfolgenden Rezitativ bittet auch der von den Streichern festlich-sanglich begleite Tenor um Vergebung. Darauf erhebt sich nochmals die nur vom Generalbass begleitete Stimme des Christus-Basses mit dem Bibelwort Johannes 16, 33: "In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden", wobei die menschliche Angst in beklemmenden Wiederholungen und exponierten Sekund-Abstiegen spürbar wird. Im wiegenden 12/8-Rhythmus und weit gespannten Orgelpunkten darf sich schließlich der Tenor, getragen von den Streichern, in der Gewissheit von Christi Hilfe "wiegen", und der Text des Schlusschorals - Vers 9 aus Heinrich Müllers Lied "Selig ist die Seele" (1659) - versichert zur Melodie von "Jesu meine Freude", dass die Liebe Christi auch bitteres Leid zur Freude macht.

Dagmar Hoffmann-Axthelm