Bachkantaten in der Predigerkirche
 

 

Der Himmel lacht! Die Erde jubilieret
Zur Bachzeit wurde das Osterfest an drei Tagen gefeiert. Für diese Zeit sind nicht weniger als neun Kantaten von Bach überliefert. Die Kantate BWV 31, "Der Himmel lacht! Die Erde jubilieret", für den ersten Ostertag schrieb Bach bereits in Weimar zum 21. April 1715. In Leipzig hat er sie mehrfach wiederaufgeführt und teilweise verändert. Unsere Aufführung folgt im Wesentlichen der Weimarer Fassung.

Wie auch für acht weitere Kantaten wählte Bach für dieses Werk einen Text des Weimarer Hofdichters Salomon Franck aus dessen "Evangelischem Andachts-Opffer" (1714/15). Der Text enthält kein Bibelwort, sondern ist eine freie Paraphrase der Osterbotschaft, die die ganze Kreatur erfasst und erlöst. Die Textmitte bringt eine entscheidende Wendung: Die Auferstehung Christi löst keinen Auferstehungsautomatismus aus; die "gottergebene Seele" muss den Weg der geistlichen Auferstehung selbst gehen. Wie Luther betont, kann es nicht um die "billige Gnade" gehen, sondern um die Entscheidung für die imitatio Christi , und damit um einen Leidensweg. Der Text endet mit der für eine Osterkantate auf den ersten Blick überraschenden Thematik der Todessehnsucht, die sich aber als Vorwegnahme der Auferweckung durch Christus erweist.

Als erstes fällt in Bachs Vertonung die grosse Besetzung auf: Der vierfache Streicherchor mit doppelten Celli und Continuo wird erweitert durch einen fünffachen Holzbläserchor und drei Trompeten samt Pauken, insgesamt 17 unterschiedliche Instrumente! In diesem vollen, prächtigen Klang lässt Bach die Osterkantate mit einer Sinfonie in C-Dur beginnen. Nach sechs fanfarenartigen Takten bricht der Osterjubel aus und wird von einer Instrumentalgruppe zur nächsten weiter getragen, bis er am Schluss wieder im Einklang endet. Im folgenden Chorus tritt ein Vokalquintett dazu und exponiert das Hauptthema ("Der Himmel lacht") als doppelt durchgeführte Fuge mit ritornellartigen Einwürfen. Die Grabesruhe wird durch einen adagio -Einschub mit starken Modulationen dargestellt. Dem schliesst sich wiederum als Fuge der zweite Gedanke an ("der Heiligste kann nicht verwesen"). Bach beendet den Chorus mit einem kurzen instrumentalen Nachspiel, welches die Anfangsmotivik wieder aufgreift. Auf ein dramatisches Rezitativo arioso folgt eine Bassarie, die nur vom basso continuo begleitet wird und wie eine Passacaglia fast nur aus gleich bleibenden Figuren besteht. "Fürst des Lebens, starker Streiter": Symbolhaft beginnt der bassus generalis als Klang- und Harmoniefundament diesen Lebenskampf. Die beiden Bassstimmen stehen hier wohl für den Kampf zwischen Leben und Tod, für die Stärke wie auch für die Wunden Christi. Das Paradoxon des Textes kommt auch in der Musik zum Ausdruck, indem die gleichen Figuren sowohl für den einen wie auch für den anderen Affekt verwendet werden.

Versetzt man sich in die Rolle eines Komponisten, so muss man sich die Frage stellen, wie die nächste, theologisch höchst komplexe Textzeile (Röm. 5, 12-21) musikalisch umgesetzt werden kann: "Adam muss in uns verwesen, soll der neue Mensch genesen, der nach Gott geschaffen ist". Setzt man den Akzent eher auf den ersten (der alte Adam) oder auf den zweiten Aspekt (der neue Mensch)? Könnte man den Prozess im Sinne einer Wandlung darstellen? Es scheint so, als ob Bach hier nicht primär Wort für Wort rhetorisch umsetzt, sondern von einer liedhaften Melodie ausgeht. Die begleitenden Streicher kommentieren die ariose Tenorlinie mit ritornellartigen Figuren, wobei die erste Geige mit ständigen, einschmeichelnden Wechselfiguren gewissermassen zur Umkehr ruft. (Händel wird später im Messias einen anderen Weg wählen: eine dramatische Gegenüberstellung von zwei Affekten, "for as in Adam all die - even so in Christ shall all be made alive". Das eine vierstimmig a capella und grave , das andere im tutti und allegro.)

Die letzte Arie erklingt in aparter Besetzung: Im Dialog mit der Oboe d'amore singt der Sopran von der letzten Stunde, begleitet von den pizzicato -geführten Bässen. Dazu spielen die vier oberen Streicher den Sterbechoral von Nikolaus Herman (1560):

Wenn mein Stündlein vorhanden ist, und ich fahr meine Strasse,
geleite mich, Herr Jesu Christ, mit Hilf mich nicht verlasse,
den Geist an meinem letzten End
befehl ich, Herr, in deine Händ,
du wirst ihn wohl bewahren.

Den Abschluss der Kantate bildet die letzte Strophe dieses Chorals, eingerahmt von einem nach unten oktavierenden Fagott und einer in höchster Höhe glänzenden Oberstimme (Trompete und Violine I).

 

Bleib bei uns, Herr, denn es will Abend werden
Am zweiten Ostertag wurde als Evangelium die Geschichte des Gangs der Jünger nach Emmaus verlesen (Luk. 24, 13-35). Mit Alfred Dürr (1971) kann man in diesem Text "allgemeingültige Symbole christlicher Glaubenserfahrung" sehen: "Das scheidende Licht, die hereinbrechende Nacht und die Bitte der Jünger, nicht alleingelassen zu werden."

Bachs unbekannter Textdichter verwendet in dem sechsteiligen Text die Form Bibelwort - Arie - Choral - Rezitativ - Arie - Choral. Kein Osterjubel ist im Eingangssatz zu hören, sondern die traurig-reflektierende Gemütsverfassung der beiden Emmausjünger. Bach wählt - wie auch für die Schlusschöre der Johannes- und der Matthäuspassion - die Form einer Sarabande und kombiniert sie mit dem "überaus lieblichen, dabei auch tristen Ton" c-Moll (Johann Mattheson). Er bildet ein viertaktiges homophones Ritornell, begleitet von den Streichern, die beharrlich immer denselben Ton wiederholen, als wollten sie die Bitte unterstreichen: "Bleib bei uns". Der zweite Teil des Textes, "denn es will Abend werden" ist imitatorisch gehalten und moduliert in die warme, freundliche Paralleltonart. Die Abwechslung von homophonen und fugierten Abschnitten erinnert an motettische Techniken seiner Vorgänger und Vorfahren (Johann Kuhnau, Johann Michael Bach). Im Mittelteil des Eingangssatzes wird der argumentative Diskurs heftiger (Doppelfuge) und die Bitte noch eindringlicher, indem die drei Anfangswort in der Vergrösserung wie herausgehoben werden (BLEIB BEI UNS!). Der Schlussteil greift nach einer Generalpause den Anfang wieder auf und schliesst in hoffnungsvollem C-Dur.

Die erste Arie ist einerseits eine Bitte an den "hochgelobten Gottessohn", also an den für die Emmausjünger zunächst noch unbekannten Begleiter. Sie steht in der weichen Tonart Es-Dur, die von Bach oft verwendet wird, wenn es um die Verehrung Gottes geht. Andererseits wird hier die einbrechende Finsternis dargestellt, die mit abschreitenden Ganztönen und Modulationen bis as-Moll plastisch vor Ohren tritt.

Der nachfolgende Choral mag manchen Hörern bekannt vorkommen: Bach hat ihn zusammen mit fünf anderen Chorälen als Orgelwerk bearbeitet und durch den Verleger Georg Schübler (1748/49) veröffentlichen lassen. In der Originalfassung dieser Kantate beginnt Bach das Stück wie eine virtuose Cellosonate in hoher Lage. Bestens für diesen tenoralen Umfang geeignet ist das von ihm gerne verwendete Violoncello piccolo. Nach vierzehn Takten setzt der Sopran mit dem schlichten Choral ein: "Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ". Nun realisiert der aufmerksame Hörer, dass das Anfangsmotiv eigentlich eine Umspielung der ersten Choraltöne ist. Das Stück besticht durch seine klare Struktur, den innig-bittenden Gestus des Soloinstrumentes und den überzeitlich wirkenden, hell leuchtenden Choral.

Ein kurzes Rezitativ stellt die Erfahrung der Emmaus-Jünger in einen grösseren Zusammenhang und erklärt predigtartig den Grund für die zunehmende Dunkelheit mit der Sündhaftigkeit des Einzelnen. Die Formulierung "drum hast du auch den Leuchter umgestossen" nimmt Bezug auf eine Passage aus Offb. 2, 5: "Gedenke, wovon du gefallen bist, und tue Busse und tue die ersten Werke. Wo aber nicht, werde ich über dich kommen und deinen Leuchter wegstossen von seiner Stätte, wenn du nicht Busse tust." Die nachfolgende zweite Arie ist denn auch eine Aufforderung, auf Jesus zu schauen und ihm nachzufolgen. Dass im Kopfmotiv ein Kreuz eingezeichnet werden kann (mit den Noten g-d-b-fis), ist in Bachs Tonsprache kein Zufall. Zudem benutzt Bach in dieser Arie häufig Tritonus-Motive zum Ausdruck der Sündenwege. Auffallend ist, dass Bach im B-Teil ("Lass das Licht") in der Tenorstimme eine ganz andere Melodik und lange Melismen verwendet. Das da capo überlässt Bach wie auch in der ersten Arie allein den begleitenden Instrumenten. Die Kantate schliesst mit einem vierstimmigen Choralsatz zur zweiten Strophe des Lutherliedes "Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort".

Der zentrale Vers "Bleib bei uns, Herr" diente übrigens etlichen Komponisten als Grundlage für ebenso schlichte wie eindrückliche Werke. Erwähnt seien die Motetten von Heinrich Schütz und Johann Michael Bach, das Abendlied von Joseph Rheinberger sowie der vielerorts bekannte Kanon "Herr, bleibe bei uns" von Albert Thate (1935).

Jörg-Andreas Bötticher