Bachkantaten in der Predigerkirche |
Du wahrer Gott und Davids Sohn BWV 23 Wie aus dem erhaltenen Autograph von BWV 23 ersichtlich ist, war "Du wahrer Gott und Davids Sohn" zunächst dreisätzig; den gewichtigen, klangprächtigen Schlusschoral, der ursprünglich möglicherweise als Schlusschor einer frühen Passion figurierte, fügte Bach der Kantate aus Anlass der Leipziger Probe an. Der Text steht in engem Bezug zum Evangelium des Sonntags Estomihi, des letzten Sonntags vor der Fastenzeit, während der in Leipzig die Figuralmusik schwieg. Im 18. Kapitel des Lukasevangeliums wird von der Wanderung Jesu und seiner zwölf Jünger nach Jerusalem berichtet, wo sich am Karfreitag seine Passion erfüllen soll ("Jesus nahm zu sich die Zwölfe"). Unterwegs begegnet die Gruppe einem Blinden, der ruft "Jesu, Du Sohn Davids, erbarme Dich mein!", und Jesus macht ihn wieder sehend. Im Eingangstext des unbekannten Kantatendichters bittet ein den zeitgenössischen Christenmenschen vertretendes "Ich" den "wahren Gott", der ja nach alter Prophezeiung aus dem Hause Davids stammt, gleichfalls um Erbarmen. Musikalisch ist diese Bitte - anders als in so vielen von Bachs Kantaten - nicht als Eingangschor, sondern als meist in kanonischer Strenge geführtes Duett von Sopran und Alt gestaltet, eingeleitet und umspielt von den beiden in teils imitierendem, teils homophonem Satz verlaufenden Oboi d'amore. Im anschließenden Accompagniato-Rezitativ fleht das dem Tenor in Mund und Stimme gelegte "Ich" angesichts der eigenen Blindheit um Christi Segen, wobei in ebenso kunst- wie wundervoller Art die beiden Oboen und die erste Violine die Textworte in einen aus der Melodie des Schlusschorals "Christe, du Lamm Gottes" gewebten Klangteppich einhüllen. Der Text des anschließenden (und das Werk ursprünglich abschließenden) Chores nimmt wiederum das Blickmotiv auf: "Aller Augen warten, Herr, du allmächtiger Gott, auf Dich", musikalisch in eine strophenhafte, homophon aufsteigende Acht-Takt-Periode gefasst, die insgesamt sechs Mal wiederkehrt, während das christliche "Ich" mit den duettierenden Tenor- und Bass-Stimmen in kontrapunktischer Vielfalt das Ende der "Fünsternüsse" erhofft. Ein besonderer Kunstgriff ist wiederum das Anklingen des Schlusschorals, diesmal zu Beginn des Continuo und im Bass der Singstimme, bevor dann schließlich das "Agnus Dei" der lutherischen Liturgie, "Christe, du Lamm Gottes", als groß angelegter Schlusschoral erklingt. Von einer Musik zum Sonntag Estomihi erwartete die Kirchengemeinde nicht nur, dass sie das 18. Kapitel des Lukasevangeliums reflektierte, sondern auch, dass sie die Brücke zur nachfolgenden Passionszeit mit dem zentralen Geschehen von Christi Opfertod schlug. Das tut Bach im Schlusschor auf denkbar würdevolle Art. Er erweitert das Instrumentarium durch drei colla parte mit den tieferen Singstimmen gesetzten Posaunen und einen den Sopran stützenden Zink, und kompositorisch fasst er die sich drei Mal wiederholenden Worte nicht strophisch, sondern in einem durchkomponierten Satz: zunächst wird die Choralmelodie in einer mehr oder weniger akkordischen Bearbeitung von den Gesangsstimmen vorgetragen, dann in einem dreistimmigen Kanon von Sopran, Oboen und erster Violine und schließlich im Unisono von Sopran und erster Violine. Als Bach sich am 8. Februar von Leipzig verabschiedete, hatte er zwar 20 Taler Honorar, aber keinen Vertrag in der Tasche. Im Gegenteil, der Rat hatte sich schon vor Bachs Besuch auf Christoph Graupner, Kapellmeister am Hof zu Hessen-Darmstadt, als Kuhnau-Nachfolger geeinigt. Der war nicht nur Thomasschüler gewesen, sondern hatte später auch an der Leipziger Universität Jurisprudenz studiert - man kannte sich also bestens. Erst als Landgraf Ernst Ludwig seinen Kapellmeister nicht ziehen ließ, war der Weg für Bach frei. Am 5. Mai wurde ihm in der Leipziger Ratsstube eröffnet, man habe "Ihn einhellig erwehlet, und solte Er von dem hiesigen Superintendenten präsentieret, auch ihme dasjenige [Einkommen] gereichet werden, was der verstorbene Herr Kuhnau gehabt. Ille Danckte gehorsamst, daß man auf ihn Reflexion machen wolle, und verspräche alle Treu und Fleiß."
Bach vertonte alle neun Verse als eigenständige Kantatensätze, so dass sich die Liedstrophen unverhofft als Eingangschor, als Rezitativ, als Arie oder als Duett wiederfinden. Aber das ist nicht die einzige Metamorphose: Unter Bachs Hand verwandelt sich die erste Strophe des Kirchenliedes nicht nur in einen ausladenden Eingangschor, sondern auch in ein exzellentes Stilgemisch: Bachs Musik verquickt die Leipziger Thomaskirche mit der Welt der französischen Oper, die Choralbearbeitung Bachscher Prägung mit der Ouvertüre im französischen Stil. Diese wird charakterisiert durch einen Beginn in langsamen Tempo (Bach schreibt Grave vor) und punktierten Rhythmen, gefolgt von einem Satz in schnellem Tempo, in den sich im vorliegenden Fall die Choralbearbeitung mit dem Sopran als Cantus firmus-Träger einfügt, der von den drei weiteren Singstimmen in instrumental anmutender, fugierter Stimmführung kontrapunktiert wird. Versailles lässt auch in zwei kurzen "Trios" grüßen, in denen in Lullyscher Manier die beiden Oboen und das Fagott über dem Generalbass konzertieren. Von den folgenden zwei Rezitativen, den vier Arien und dem Duett, alles Sätzen im übrigen, von denen keiner Isaacs Melodie weiterverarbeitet, sei vor allem auf Versus 4 verwiesen, eine Tenorarie, deren Text Gottes Gnade preist und deren Begleitung der Solovioline mit reich differenziertem Figurenwerk und mit bis zu vierstimmigen akkordischen Griffen ein hohes Maß an Virtuosität abverlangt. Auch der Schlusschoral erstrahlt in besonderem Licht: Zwar deklamieren die Singstimmen den cantus firmus im gewohnten vierstimmigen Satz, aber während die Oboen im Unisono den Sopran verstärken, krönen die beiden Violinen und die Viola den Kantatenschluss dadurch, dass sie ihn mit einem eigenständigen Streichersatz zur Siebenstimmigkeit erweitern. Ob Bach für diese Kantate eine liturgische Bestimmung im Kirchenjahr vorsah, wissen wir nicht. In jedem Fall aber nimmt er uns - wie in Flemings "Reiselied" vorgegeben - auf eine phantastische Reise mit: in das Innsbruck der Renaissance, in das gravitätische Zeremoniell der französischen Oper Lullyscher und Rameauscher Prägung, in die faszinierende Welt instrumentaler und vokaler Virtuosität und unter das gotische Gewölbe der Thomaskirche. Dagmar Hoffmann-Axthelm |
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