Bachkantaten in der Predigerkirche
   
     
     

Im heutigen Konzert erklingen zwei Kantaten, die demselben Jahrgang angehören. Es sind beides Choralkantaten, d.h. ihre textliche Grundlage wird durch ein Kirchenlied gebildet, dessen Strophen zum Teil wörtlich beibehalten, zum Teil von einem unbekannten Kantatendichter in Rezitative und Arien umgedichtet wurden. Sie gelangten am 2. Februar 1725 am Fest Mariä Reinigung und am 4. Februar am Sonntag Sexagesimä in Leipzig zum ersten Mal zur Aufführung. Die Lieder, die ihnen zu Grunde liegen, stammen beide von Martin Luther. Sie sind von ihm aus unterschiedlichem Anlass gedichtet worden, das Lied "Mit Fried und Freud ich fahr dahin" als Nachdichtung des neutestamentlichen Lobgesangs Simeonis, des Altvaters "Nunc dimittis", das Lied "Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort" als Gebetslied in akuter Kriegsnot. Beide Lieder haben in der lutherischen Kirche eine wichtige Rolle gespielt und sind gerade auch für die Kirchenmusik von grosser Bedeutung geworden.

   


Mit Fried und Freud ich fahr dahin
Im Zentrum des Kirchenfestes, das am 2. Februar gefeiert wird, steht der greise Simeon, der im Tempel von Jerusalem auf den Messias wartete und dem die Verheissung zu Teil geworden war, er sollte den Tod nicht sehen, er hätte denn zuvor den Christus des Herrn gesehen. Als nun Maria und Josef mit dem Jesuskind zu dessen Darstellung und zur Reinigung der Mutter am 40. Tag nach der Geburt des Kindes gemäss dem jüdischen Gesetz in den Tempel kamen, nahm Simeon das Kind auf die Arme und sprach: ?Herr, nun lässest du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du bereitet hast, ein Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volks Israel." Diese Geschichte aus Lukas 2, 22-32 wird am 2. Februar als Festtagsevangelium verlesen, und da sich dieses Fest anders als viele andere Feste der vorreformatorischen Zeit biblisch begründen liess, wurde es auch von Luther beibehalten. Es trägt den Namen Mariä Reinigung oder Darstellung Jesu im Tempel , und es ist auch unter den Namen Mariä Lichtmess bekannt. Bis ins 18. Jahrhundert wurde es in der lutherischen Kirche gefeiert, und so sind von Bach auf dieses Fest nicht weniger als 5 Kantaten erhalten, u. a. die berühmte Solokantate BWV 82   "Ich habe genung". Grundtenor aller dieser Bachschen Kantaten ist die Sterbebereitschaft Simeons, wie er sie in seinem Nunc dimittis in exemplarischer Weise ausgedrückt hat: "Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast."

Luthers Umdichtung von Simeons Lobgesang umfasst vier Strophen, von denen drei in der Kantate BWV 125 im Wortlaut beibehalten worden sind. Die erste Strophe ist als grossangelegter Chorsatz gestaltet, bei dem der cantus firmus im Sopran liegt. Der Satz ist in einem wiegenden 12/8-Takt geschrieben, der Frieden, Freude, Getrostheit ausstrahlt oder vielleicht richtiger gesagt, den Menschen in diese Atmosphäre mit hineinnimmt. Unüberhörbar bleibt dabei, dass die Worte sanft und stille sowie die Schlusszeile Der Tod ist mein Schlaf worden in ganz besonderer Weise vertont wurden. Der Tod als Schlaf, das entsprach Luthers ureigenster Überzeugung. Von gleicher Ruhe und Schönheit ist die Altarie Nr. 2, nach dem e-moll des Eingangschores in h-moll stehend, und auch hier wird wieder das Wort, das vom Sterben als dem Lebensende redet, besonders hervorgehoben, diesmal durch eine Gene-ralpause, bevor dann die Bewegung mit der tröstlichen Zusage: [Jesus] lässet mir kein Leid geschehen wieder einsetzt. Doch damit nicht genug: Auch im dritten Satz bleibt das Thema Tod und Sterben im Vordergrund. Es ist ein tropierter Choral, gesungen von der Basstimme, was wohl kein Zufall ist, lässt sich doch der Choraltext mit seinen Erweiterungen (Tropie-rungen) besonders gut als Aussage Simeons verstehen. So gehen die erfüllte Zeit und der Glaubensarm, der das Heil des Herrn umfing, direkt auf ihn zurück. Bei den Choralzeilen hat Bach wichtige Worte durch Melismen hervorgehoben, ganz besonders deutlich wiederum das Wort Sterben als letztes Wort am Ende des Satzes. In den darauf folgenden Sätzen 4-6, die die zweite Hälfte der Kantate ausmachen, wird nun ein anderer, ein kräftigerer Ton angeschlagen. Er wird bestimmt von dem in Simeons Lobgesang verheissenen unbegreiflichen Licht für den ganzen Kreis der Erden und von Luthers zusätzlichem Hinweis auf den durch Christus aufgestellten Gnadenstuhl als Ort der Rettung für jedes gläubige Gemüte. Das im Duett Nr. 4 genannte höchst erwünschte Verheissungswort: "Wer glaubt, soll selig werden" ist eine Anspielung   an den Schluss des Markusevangeliums: ?Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden" (Markus 16,16). Den Abschluss der Kantate bildet die vierte Strophe von Luthers Lied. Erleuchtung und Heil, sie sollen allen Völkern - den Juden wie den Heiden - zu Teil werden.

Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort
Die Kantate BWV 126, die auf den heutigen Sonntag Sexagesimä gehört, nimmt vom Evan-gelium dieses Tages nicht das ganze Gleichnis vom Sämann auf, der ausging zu säen und dessen Samen auf ein vierfaches Ackerfeld fiel, nämlich auf den Weg, den Felsen, unter das Unkraut und auf guten Boden (Lukas 8,4-15). Die Kantate konzentriert sich vielmehr ganz   auf die Bedeutung des Wortes Gottes, das ja mit dem Bild des Samens im Gleichnis gemeint ist. Der ihr zugrunde liegende Choral setzt sich aus verschiedenen Bestandteilen zusammen, nämlich aus dem dreistrophigen trinitarischen Lutherlied ?Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort", dem schon in der Reformationszeit zwei Strophen von Justus Jonas angefügt wurden, sowie der ebenfalls von Luther stammenden Übertragung der lateinischen Antiphon ?Da pacem, Domine, in diebus nostris: Verleih uns Frieden gnädiglich", die Johann Walter mit einer zweiten Strophe versehen hat, einer wörtlichen Übernahme aus dem 1.Timotheusbrief (2,1f.). Mit diesem Textgebilde sind wir mitten in der Reformationszeit angesiedelt, nämlich bei der Wort-Gottes-Theologie von Martin Luther als dem Zentrum seines Glaubens sowie bei den von ihm so gefürchteten Bedrohungen durch den Papst und die Türken, gegen die er kämpfte wie ein alttestamentlicher Gottesmann, nicht mit Waffen, sondern mit dem Gebet.

Luthers Lied "Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort" hat in der Kirchengeschichte viel zu reden gegeben, und in späteren Zeiten wurde der Wortlaut der Urfassung und steur des Papsts und Türken Mord häufig ersetzt durch deiner Feinde Mord . Nicht so in Bachs Kantate, aber es wird deutlich, dass in ihr das ursprüngliche Feindbild ausgeweitet wurde. Zu den äusseren Erzfeinden Christi und seiner heiligen Kirche, den Papst und Türken etc., wie sie bei Luther heissen, kommen im tropierten Choral Nr. 3 als ärgster Feind die inneren Feinde hinzu, d.h. die falschen Brüder in den eigenen Reihen, die Einssein im Glauben und Einheit im Leben der Kirche verunmöglichen, und schliesslich auch noch der letzte Feind, d.h. (nach 1. Korinther 15, 26) der Tod. Gott, der heilige Geist, wird um Hilfe gegen alle diese Feinde gebeten, eine Bitte, die Bach im Satz Nr. 3 in unvergleichlicher Weise vertont hat. Alt und Tenor wechseln sich bei den rezitativischen Partien ab, um sich dann jeweilen bei den Choralzeilen zu einer Zweistimmigkeit von höchster Intensität zu vereinen, die bei der Schlusszeile g'leit uns ins Leben aus dem Tod ganz besonders eindrücklich ist. Diesem Satz Nr. 3 gehen der Eingangs-chor Nr. 1 und die Tenorarie Nr. 2 voraus. Der Eingangschor ist ein Choralchorsatz mit dem Cantus firmus im Sopran, bei dem eine Trompete mitspielt, die Arie Nr. 2 richtet ihren Ruf um Hilfe gebetsartig an Christus als den Herrn der Herren und als starken Gott. Auf Satz 3 folgt eine höchst dramatische Continuoarie für Bass, in der man die schwülstig stolzen Menschen geradezu in den Abgrund stürzen sieht. Ein ruhiges Rezitativ für Tenor leitet über zum Schlusschoral "Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten", in dem für-bittend auch für die Obrigkeit und ihr Regiment eingetreten wird - eine Aufgabe wohl von immerwährender Aktualität; denn mit dem in diebus nostris - zu unsern Zeiten ist immer die Gegenwart gemeint.

Dr. theol. HeleneWerthemann

 

 

 





E. E. Hochw. Raths der Stadt Leipzig Ordnung der Schule zu S. Thomae.
Gedruckt bey Immanuel Tietzen, 1723.
1. Die St. Thomas Kirche. 2. Die Thomas Schule. 3. Der Steinerne Wasser Kasten.
Krugner fecit Lipsiae

     

- Abb: Fischer, Hans Conrad: Johann Sebastian Bach:
Sein Leben in Bildern ... Stuttgar 1985, S. 165