Bachkantaten in der Predigerkirche
 
 

Kindheitsgeschichten von Jesus als Sonn- und Festtagsevangelien
Zu Beginn eines jeden neuen Jahres wurden in den Gottesdiensten der lutherischen Kirche Geschichten aus Jesu Kindheit und Jugendzeit als Evangelium gelesen, wie sie in den ersten Kapiteln des Matthäus- und des Lukasevangeliums erzählt werden, so an Neujahr seine Beschneidung und Namengebung, am Sonntag nach Neujahr die Flucht nach Ägypten, an Epiphanias das Kommen der Weisen aus dem Morgenland und am 1. Sonntag nach Epiphanias die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Am 2. Sonntag nach Epiphanias wird dann von Jesu erstem Wunder berichtet, der Verwandlung von Wasser in Wein an der Hochzeit zu Kana. Diese Evangelientexte waren jeweils die Grundlage für die Kantaten und für die Predigten, und da sie sich Jahr für Jahr wiederholten, wurden bei ihrer "andächtigen Betrachtung" die inhaltlichen Akzente gerne verschieden gesetzt oder es wurden nur Teilaspekte behandelt. Gerade dieses Letztere gilt für alle drei Kantaten, die im heutigen Konzert erklingen.

verloren - gefunden
Die Kantate "Mein liebster Jesus ist verloren" (BWV 154) geht von der Geschichte des zwölfjährigen Jesus im Tempel aus (Lukas 2, 41-52). Darin wird erzählt, wie Jesus am Passafest seine Eltern nach Jerusalem begleitet hatte, von ihnen auf dem Heimweg plötzlich vermisst und dann im Kreise von Lehrern im Tempel gefunden wurde, dort zuhörend, fragend und antwortend. Als die Mutter Maria ihm zu verstehen gab, dass sein Vater [Josef] und sie sich um ihn sehr gesorgt hätten, antwortete er: "Wisset ihr nicht, dass ich sein muss in dem, das meines Vaters ist?", d.h. im Tempel Gottes. Dieses Jesuswort bildet die Mitte der Kantate. Es wird vom Bass als der Stimme Christi gesungen. Davor ist von der Angst beim Verlust von Jesus die Rede, danach von der Freude beim Wiedersehen mit ihm. Dabei geht es aber nicht mehr um die damaligen Empfindungen der Eltern Jesu, sondern um diejenigen des Menschen der jeweiligen Gegenwart. Sprachlich hat sich der unbekannte Kantatendichter vom Hohelied anregen lassen, dessen Liebeslyrik oft für die Beziehung zwischen Jesus und der gläubigen Seele verwendet wurde. Und Bach hat sich durch den Kantatentext zu einer Vertonung anregen lassen, die die verschiedenen Empfindungen sinnenfällig zum Ausdruck bringt. Das zeigt sich ganz besonders in den drei Arien, deren Grundaffekte nach Alfred Dürr verzweifelte Klage (Arie Nr. 1), inbrünstige Sehnsucht (Arie Nr. 4) und überschwängliche Freude (Duett Nr. 7) sind. Darüber hinaus hebt Bach aber auch einzelne Textaussagen hervor, so z.B. in der Eingangsarie die Zeile "O Donnerwort in meinen Ohren" mit einem plötzlich einsetzenden Streichertremolo oder im Duett Nr. 7 die daktylischen Schlusszeilen "Ich will dich, mein Jesu nun nimmermehr lassen, ich will dich im Glauben beständig umfassen" durch einen überraschenden Taktwechsel. Von besonderer Durchsichtigkeit ist die Arie Nr. 4, bei der die Grundstimme durch Violinen und Viola, einem sogen. Bassettchen, gebildet wird. Bach hat das Werk am 1. Sonntag nach Epiphanias des Jahres 1724 zum ersten Mal in Leipzig aufgeführt und sicher ein weiteres Mal in den späten 1730er Jahren. Einzelne Teile mögen aber schon früher entstanden sein, sei es in Weimar oder in Köthen.

Jesus weiss die rechten Stunden
Die beiden Kantaten   "Meine Seufzer, meine Tränen" (BWV 13) und "Mein Gott, wie lang, ach lange" (BWV 155), die beide auf den heutigen 2. Sonntag nach Epiphanias gehören, gehen mit dem Sonntagsevangelium von der Hochzeit zu Kana (Johannes 2,1-11) auf ganz ähnliche Weise um, wie es der Dichter der Kantate BWV 154 mit dem Evangelium vom zwölfjährigen Jesus im Tempel getan hat. Nicht die eigentliche Geschichte vom fehlenden Wein noch Jesu Weigerung, helfend einzugreifen und es dann doch zu tun, stehen im Mittelpunkt, sondern - ausgehend von seinem Wort: "Meine Stunde ist noch nicht gekommen" - die Überzeugung, dass Jesus die rechte Stunde kennt, auch wenn er sich vorerst untätig zu verhalten scheint. Und ähnlich wie in der besprochenen Kantate BWV 154 gibt es auch hier eine Zeit der Klage davor, einen Wendepunkt in der Mitte: "Doch, Seele, nein!" und eine Zeit der Freude danach: Aus Weinen wird Wein, aus Wermutsaft wird Honigseim und Freudenwein, das Freudenlicht erscheint in der Trauerbrust, d.h. der Mensch steht am Ende der Kantate an einem andern Ort als am Anfang.

Die Kantate "Meine Seufzer, meine Tränen können nicht zu zählen sein" stammt vom Darmstädter Hofpoeten Georg Christian Lehms, einem orthodoxen Lutheraner, dessen Frömmigkeit aber auch pietistische Züge aufweist. Bach hat verschiedentlich Texte von ihm vertont, so unsere Kantate zum 20. Januar 1726 in Leipzig. Dabei fällt auf, dass Bach in seiner Komposition die Affekte der Klage und der Getrostheit nicht auf die beiden Hälften der Kantate aufteilt, sondern dass er sie sich mischen lässt. So strahlt der in F-Dur stehende Choral Nr. 3 mitten im Klageteil grosse Zuversicht aus, während das Ächzen und erbärmliche Weinen in der Arie Nr. 5 trotz der vollzogenen Wendung noch einmal plastisch dargestellt wird. Bachs eigenständiger Umgang mit dem Kantatentext zeigt sich auch darin, dass er einen Schlusschoral anfügt, der bei Lehms fehlt. Auch in der vom Weimarer Hofdichter Salomon Franck stammenden Kantate "Mein Gott, wie lang, ach lange" wird der Weg von der Angst zur Zuversicht abgeschritten und dies noch einmal auf eine etwas andere Weise. Kurz, aber heftig wird die Verzweiflung im Eingangsrezitativ ausgedrückt, worauf wie aus einer andern Welt im Duett Nr. 2, gesungen vom Alt und Tenor mit obligatem Fagott, zu Glauben, Hoffen und Gelassenheit aufgefordert wird. Ein langes Secco-Rezitativ mit ariosen Teilen für Bass, vielleicht als Stimme Christi zu verstehen, leitet zur Arie Nr. 4 über "Wirf mein Herze, wirf dich noch in des Höchsten Liebesarme". Sie wird wie das verzweifelte Eingangsrezitativ vom Sopran gesungen. Die gleiche Stimme hat also von der Angst zur Zuversicht gefunden. Mit der 12. Strophe des Liedes "Es ist das Heil und kommen her" von Paul Speratus wird das Werk beschlossen. Entstanden ist die Kantate im Jahr 1716 in Weimar, wieder aufgeführt wurde sie in Bachs erstem Leipziger Amtsjahr am 16. Januar 1724.

Werke kammermusikalischer Art
Allen drei Kantaten ist gemeinsam, dass in ihnen grosse Chorsätze fehlen. Das mag mit der Kirchenjahrzeit des Jahresanfangs zusammenhängen, die nach der reich bestückten Weihnachtsfestzeit eine Schonung des Chores nötig machte. Es sind alles Werke kammermusikalischer Art mit zum Teil aparter Besetzung, reizvollen Klangkombinationen verschiedenster Instrumente und kühnen Wortvertonungen, zu denen Bach sich durch die barocken Texte hat anregen lassen.

Dr. theol. Helene Werthemann