Bachkantaten in der Predigerkirche
So. 10. Dezember 2006, 17 Uhr




In den beiden Werken, die im heutigen Konzert erklingen, stehen zwei biblische Personen im Mittelpunkt, die viel mit Advent zu tun haben. Es ist auf der einen Seite Johannes der Täufer, der Vorläufer des Messias, der von sich sagt, er sei eine Stimme eines Predigers in der Wüste, und es ist auf der andern Seite Maria, die als werdende Mutter ihr Magnificat anstimmt. Vielleicht könnte man sagen, dass dadurch die beiden Seiten der Adventszeit zur Darstellung kommen, ihre ernste Seite als Vorbereitungs- und Busszeit und ihre fröhliche Seite als Vorweihnachtszeit.

Bereitet die Wege, bereitet die Bahn!
Die Kantate BWV 132 gehört auf den 4. Sonntag im Advent. Sie stammt aus Bachs Weimarer Zeit und wurde von Bach eigenhändig auf das Jahr 1715 datiert. Später hatte Bach für das Werk keine Verwendung mehr, da in Leipzig die Adventszeit gleich wie die Passionszeit ohne Figuralmusik war. Als Evangelium wird am 4. Advent das Zeugnis Johannes des Täufers gelesen (Johannesevangelium 1,19-28), dessen wesentliche Bestandteile vom Kantatendichter Salomo Franck Punkt für Punkt aufgenommen und ganz individuell auf den einzelnen Menschen angewendet werden. Nur durch diesen Bezug zum Sonntagsevangelium wird der Inhalt der Kantate verständlich. Und das sind die Hauptgedanken: Es gilt, im Innersten der Seele dem Herrn den Weg zu bereiten. Es gilt, ihn im Glauben und Leben zu bekennen, notfalls bis zum Märtyrertod, wie Johannes das tun musste. Auf die Frage an Johannes: "Wer bist du?", gilt es, die eigene Antwort zu wissen ("ein falsch und heuchlerischer Christ"), und schliesslich gilt es, die rettende Bedeutung der christlichen Taufe als Geist- und Wasserbad zu erkennen. Sie ist mehr als die Taufe des Johannes, der von sich selber gesagt hat, dass er nur mit Wasser taufe, nach ihm aber derjenige kommen werde, dem die Schuhriemen aufzulösen, er nicht wert sei.  

Die Kantate beginnt mit der tänzerisch-beschwingten Empfangsarie für den erwarteten Messias "Bereitet die Wege, bereitet die Bahn", in der die Sopranstimme von den Streichern und der Solooboe begleitet wird. Es folgt ein langes Secco-Rezitativ für Tenor, in welchem - typisch für Bachs Weimarer Zeit - inhaltlich wichtige Aussagen arios hervorgehoben werden   (so das Sterben für Christus als "der Christen Kron und Ehre", so auch die mystische Vereinigung mit Christus im Glauben). In der Bassarie Nr. 3, einem musikalisch kühnen Continuosatz mit häufig konzertierend hervortretendem Violoncello, wird ständig die bohrende Frage gestellt: "Wer bist du?", auf die der Mensch sowohl aus dem Gewissen als auch aus dem Gesetz die harte Antwort erfahren kann. Vielleicht ist mit der Bassstimme in dieser Arie die Stimme Christi gemeint. Rezitativ Nr. 4 und Arie Nr. 5 für Alt sind im Zusammenhang mit Johannes dem Täufer dem Thema der Taufe und ihrer Bedeutung für das christliche Leben gewidmet. Das Rezitativ ist ausinstrumentiert, in der in Moll stehenden Arie spielt eine konzertierende Solovioline mit. Beiden Sätzen ist jene Innigkeit eigen, die die Besonderheit vieler Weimarer Kantaten Bachs auf die Texte von Salomo Franck ausmacht. In Weimar mag Bach selbst die Violine gespielt haben! Vom Absterben des alten und dem Lebendig-Werden des neuen Menschen spricht der Schlusschoral "Ertöt uns durch dein Güte, erweck uns durch dein Gnad", der mit einem schlichten vierstimmigen Satz die kammer-musikalische Kantate beendet.


Übers Gebirg Maria geht zu ihrer Bas Elisabeth
Die Geschichte vom Besuch Marias bei ihrer älteren Verwandten Elisabeth wird im Lukasevangelium 1, 39-56 erzählt. Beide Frauen sind schwanger, und bei der Ankunft Marias weiss Elisabeth bereits um die Bedeutung des werdenden Kindes Jesus, so wie auch ihr eigenes Kind - es ist der spätere Johannes der Täufer - in ihrem Leib sich freudig bewegt. Nachdem die beiden Frauen sich begrüsst haben, stimmt Maria ihren Lobgesang, das Magnificat, an. Im Kirchenjahr wird dieser neutestamentlichen Geschichte am 2. Juli, am Fest Mariae Heimsuchung, gedacht. Aber das Magnificat hat seinen liturgischen Platz auch im Stundengebet erhalten, und zwar im Vespergottesdienst. Daran änderte sich auch in der lutherischen Kirche nichts, und an grossen Feiertagen erklang des Magnificat im Nachmittagsgottesdienst als Figuralmusik. Für das erste Weihnachtsfest seiner Leipziger Amtszeit im Jahr 1723 schuf Bach das Magnificat in Es-dur BWV 243a, das er dann später überarbeitete und nach D-dur transponierte. Ausserdem liess er die vier weihnachtlichen Einlagesätze weg, die eine Besonderheit der Erstfassung ausmachen. Sie stammen textlich mehrheitlich aus einer Weihnachtskantate von Johann Kuhnau, dem Amtsvorgänger Bachs an der Thomaskirche, und sie mögen wohl von den Leipzigern mit besonderem Vergnügen gehört worden sein. Es geht darin um die Engelsbotschaft an die Hirten und um deren Freude, um das Gloria der Engel und um das Kindleinwiegen, das vielleicht in früheren Zeiten auch in Leipzig noch als alter Weihnachtsbrauch ausgeübt worden war.

Die zehn Bibelverse des Magnificat (Lukas 1, 46-55) hat Bach zusammen mit der abschliessenden Doxologie in 12 Sätzen vertont, und man kann sicher sagen, dass sich der biblische Text mit seinen inhaltlichen Gegensätzen in geradezu idealer Weise für eine lebendige Vertonung eignet. Das Gottesbild zeigt einen mächtigen und gleichzeitig barm-herzigen Gott, und die Umwertung aller Werte, von der das Magnificat redet, lässt sich    musikalisch anschaulich darstellen: die Hoffärtigen werden zerstreut, die Gewaltigen vom Stuhl heruntergestürzt, die Reichen leer gelassen, und umgekehrt werden die Niedrigen erhoben und die Hungrigen gesättigt. Einmal verwendet Bach auch den gregorianischen Choral des Magnificat, indem er ihn im Terzett Nr. 10 "Suscepit Israel" durch ein Blasinstrument rein instrumental vortragen lässt. Es ist er 9. Psalmton, der auch in der lutherischen Kirche bekannt war, da auf ihn die deutsche Übertragung des Magnificat ?Meine Seele erhebt den Herren" gesungen wird. Eine besondere Geschlossenheit erhält das Werk schliesslich dadurch, dass der Schluss der Doxologie "Sicut erat in principio" an den Eingangschor anknüpft, "dessen Hauptmotive noch einmal zu einem strahlenden Bilde zusammendrängend", so Philipp Spitta. Bachs Magnificat ist festliche Musik für fünf Stimmen und das volle Barockorchester mit Pauken und Trompeten. Es ist jene Musik, wie sie dem Weihnachtsfest als einem der drei christlichen Hochfeste neben Ostern und Pfingsten adaequat ist.

Dr. theol. Helene Werthemann