Bachkantaten in der Predigerkirche
So. 12. November 2006, 17 Uhr


Wohl dem

Die Choralkantate "Wohl dem, der sich auf seinen Gott" (BWV 139) zum 23. Sonntag nach Trinitatis erklang zum ersten Mal am 12. November 1724. Der Text folgt im ersten und letzten Satz dem Choral von Johann Christoph Rube (1692), die mittleren Sätze sind freie Einschübe eines unbekannten Textdichters mit Anlehnungen an den Choraltext. Das Evangelium dieses Sonntages (Mt. 22, 15-22) ist die Zinsgroschenfrage. Der Kantatentext nimmt nur in Satz 5 ("Ich gebe Gott, was Gottes ist") einen direkten Bezug darauf und betrachtet ansonsten diese Geschichte von einer anderen Seite: Trotz Unglück, Neid, Hass und List bin ich beschützt oder gar vergnügt, weil Gott mir beisteht.

Bach komponiert den Eingangschor im Stil einer Choralmotette. Die drei unteren Chorstimmen imitieren die jeweilige Choralzeile in kleinen Notenwerten, der Sopran singt darüber die Choralmelodie in Pfundnoten. Dazu kommt das kleinbesetzte Orchester mit ritornellartigen Vor- und Zwischenspielen, in denen ebenfalls die Choralthematik versteckt ist. Für die folgende Tenorarie "Gott ist mein Freund" hat Bach zwei obligate Instrumente vorgesehen. Überliefert ist allerdings nur die konzertierende Violinstimme. Die zweite Stimme (Oboe d'amore) wurde von J.-A. Bötticher rekonstruiert. Bach verbindet hier zwei Affekte: das mit einem lieblichen Schleifer beginnende Dreiklangsmotiv ("Gott ist mein Freund") und das Toben des Feindes (lange Koloraturen, stechende Bassfiguren). Nach einem kurzen Altrezitativ folgt eine Bassarie für zwei Oboen d'amore, Violine und Basso continuo. Während die unisono spielenden Oboen zusammen mit dem Basso continuo in ouvertürenartigen Rhythmen die Schläge des Unglücks gleichsam austeilen, beschreibt die Violine in gross ausgreifenden und unaufhörlichen Arpeggi das Ausmass dieses Unglücks "von allen Seiten" und webt das "zentnerschwere Band". Auch diese Arie ist affektmässig zwei- bzw. dreigeteilt: Die plötzlich erscheinende "helfende Hand" und "des Trostes Licht" erklingen in einer ganz anderen Motivik und in anderen Tempi (vivace bzw. andante).

Eindrücklich ist die Wendung in Satz 5 (Recitativo accompagnato): Nicht das äussere Unglück bedroht mich am meisten, sondern der "Feind in mir". Da Gott mein Freund ist, kann ich ihm "das Innerste der Seele" geben, er verwandelt meine Last. Mit dieser Hoffnung, die aus der Hoheliedthematik schöpft, kann man in den kämpferischen und doch tröstlich endenden Schlusschoral einstimmen.

O Ewigkeit, du Donnerwort
Für den 24. Sonntag nach Trinitatis schrieb Bach in seinem ersten Leipziger Amtsjahr die Kantate BWV 60, "O Ewigkeit, du Donnerwort" (7.11.1723). Dieser Choral von Johann Rist (1642) muss dem Thomaskantor sehr am Herzen gelegen haben, hat er ihn doch später noch einmal als Grundlage für die Kantate BWV 20 verwendet. Die Perikope dieses Sonntages (Mt. 9, 18-26) berichtet, wie Jesus die Tochter des Jairus wieder auferweckt. Der Kantatentext reflektiert in einem kunstvollen "Dialogus zwischen Furcht und Hoffnung" die Grösse und Schwere des Todes angesichts der Ewigkeit. Als alia vox tritt im vierten Satz noch eine Bassstimme hinzu, welche (wie in den Exequien von H. Schütz) die Seligkeit der Toten verkündet.

Die Furcht exponiert im Eingangschoral in barocker Drastik mehrere Ebenen der Todeswirklichkeit (M. Petzoldt 2004): Die Ewigkeit als Gericht, den Schmerz, die Zeitlosigkeit, die Traurigkeit, die Fluchtlosigkeit, das Erschrecken, den unstillbaren Durst. Die Hoffnung antwortet mit einem Bibelzitat (Gen. 49, 18 und Ps. 119, 166): "Herr, ich warte auf dein Heil." Bach gelingt es, in einem Satz nicht nur Choral (Alt, durch ein Corno verdoppelt) und Arie (Tenor) miteinander zu verbinden, sondern auch eine selbständige Orchesterthematik zu entwickeln, die wechselweise die Gefühlslage der Furcht (Streicher, bebende Akkordwiederholungen) oder der Hoffnung wiedergibt (Oboen, sehnsüchtig-seufzende Figuren). Die scheinbar ausweglose Todeswirklichkeit hat nicht das letzte Wort: Sie wird von Bach in der Schlusszeile durch die Tenorstimme tonal und in der Länge überboten. Die folgenden Sätze der Kantate lassen sich auf dem Hintergrund der antiken Rhetorik verstehen:

Satz 2 Argumentation
Satz 3 Einwände/Bedenken, unterbrochen von einem hoffnungsvollen Bekenntnis
Satz 4 Widerlegung der Bedenken durch den Zuspruch Christi
Satz 5 Conclusio: Es ist genug.

Die Schrecken des offenen Grabes   zeichnet Bach im zentralen Duett (Satz drei) mit einer extremen Verzweiflungsarie der Furcht; die Hoffnung hält sich an Jesus und will das Grab als Friedenshaus sehen. Der unverändert heftige Schluss der Arie scheint jedoch die Hoffnung gänzlich zu vertreiben.

"Selig sind die Toten" (Satz vier, Offb. 14, 13): Diese unerwartete Zusage ist von Bach als eingeschobenes Arioso vertont. In drei sich steigernden Anläufen gewinnt die überzeitliche Stimme immer mehr Raum und vermag schliesslich die Furcht zu verwandeln, welche sich selbst aufgebend spricht: "Mein Leib mag ohne Furcht im Schlafe ruhn, der Geist kann einen Blick in jene Freude tun."

Es ist genug
Als Schlusschoral verwendet Bach die 5. Strophe des gleichnamigen Sterbeliedes von Franz J. Burmeister. Die Melodie von Johann Rudolf Ahle beginnt mit einem Melodieabschnitt, den man schon im Eingangssatz gehört hat. Der Zielton ist jedoch nicht ein d wie man erwarten würde, sondern ein dis, das melodisch gewissermassen über das Ziel hinausgeht. Die Ecktöne bilden ein Tritonus-Intervall. Diesen melodischen Gestus kann man in diesem Zusammenhang als Sinnbild des "Überschreitens des Lebensbereichs zum Tode" sehen (A. Dürr 1985).


Satz 1:
Orchesteranfang


Satz 1: Ende
der 1. Choralzeile


Satz 5:
1. Choralzeile


Der vierstimmige Satz ist kühn gesetzt. Schnell und überraschend wechseln die Harmonien (A-Dur>E-Dur>Fis-Dur>Gis-Dur). Kleine Bewegungen in allen Stimmen zeigen eine innere Erregung. Noch ist die Auseinandersetzung mit dem Tod nicht an ein Ende gekommen, ringt der Betende um die ars bene moriendi, die rechte Sterbekunst, die ihm erst am Schluss zuteil wird. An dem dreimal unterschiedlich vertonten Motto "Es ist genug" wird dieser Prozess deutlich:

1. Es ist genug;   dissonanter Akkord über His
2. Es ist genug,    Trugschluss (fis-Moll)
3. Es ist genug.    Klassische Kadenz in die Grundtonart des Chorals

Interessant ist die Rezeptionsgeschichte dieser Kantate im frühen 20. Jahrhundert. So liess sich der Maler Oskar Kokoschka (1886-1980) zu Beginn des 1. Weltkriegs von der Kantate zu einem Lithographiezyklus anregen (Berlin 1914). Und für Alban Berg war die Folge von drei aufsteigenden Ganztönen zu Beginn des Schlusschorals eine willkommene "Merkwürdigkeit", so dass er in seinem "dem Andenken eines Engels" gewidmeten Violinkonzert (1935) nicht nur den vierstimmigen Bachchoral als Ganzes zitiert, sondern auch seine Zwölftonreihe mit dieser Ganztonfolge schliesst.

Jörg-Andreas Bötticher