Bachkantaten in der Predigerkirche
So. 10. September 2006, 17 Uhr

 
Die ganze Welt ist nur ein Hospital
Das Evangelium, auf das sich die Kantate BWV 25 "Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe" bezieht, steht im 17. Kapitel des Lukasevangeliums, Verse 11-19. Es ist die Geschichte von der Heilung der 10 Aussätzigen, von denen ein einziger, nachdem er sich den Priestern gezeigt hat, zu Jesus zurückkomt, um sich für die Heilung vom Aussatz zu bedanken. "Dein Glaube hat dir geholfen", wird ihm daraufhin von Jesus beschieden, und Lukas führt an, dass dieser ein Samariter gewesen sei, ein Fremder also, mit dem die Juden keine Gemeinschaft hatten. Der Text unserer Kantate stammt von Johann Jakob Rambach, einem dem Pietismus nahe stehenden Theologen aus Halle, der in seiner Textauslegung das Begriffspaar Krankheit/Heilung thematisiert. Dabei ist für ihn Krankheit immer auch Sündenkrankheit, d.h. eine Folge des Sündenfalls von Adam und Eva, der die menschliche Natur sowohl in leiblicher als auch in moralischer Hinsicht ganz und gar verderbt hat: "Der erste Fall hat jedermann beflecket und mit dem Sündenaussatz angestecket." In dieser schweren Situation Rat und Hilfe zu finden, gelingt dem armen und geplagten Menschen nur durch die Bitte um Erbarmen beim göttlichen Arzt, sowie es im Evangelium von den 10 Aussätzigen berichtet wird: "Erbarme dich, du Helfer alller Kranken, verstosse mich nicht von deinem Angesicht!" In ihm findet dann auch die Frage aus dem Buch des Propheten Jeremia (8,22): "Ist denn keine Salbe in Gilead, oder ist kein Arzt Da?" ihre Antwort: "Du meine Azt, Herr Jesu, nur weißt die beste Seelenkur."

Dankgesang - lebenslang und dort im höhern Chor
Die Kantate BWV 25, die am 29. August 1723 zum ersten Mal aufgeführt wurde, beginnt mit einer gross angelegten Chorfuge über einen Vers aus Psalm 38, dem dritten der sieben Busspsalmen: "Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe vor deinem Dräuen, und ist kein Friede in meinen Gebeinen vor meiner Sünde." Orchester und Chor haben ihre je eigene Thematik, zu der als drittes Element ein von Posaunen und Flöten zeilenweise vorgetragener, also rein instrumentaler Choral kommt. Es erklingt die Melodie eines ursprünglich weltlichen Liedes, die dann zum Sterbelied "Herzlich tut mich verlangen nach einem selgen End" benützt wurde, bei der uns später Geborenen aber fast automatisch der Text des Passionsliedes "O Haupt voll Blut und Wunden" einfällt. Es kommen aber auch noch andere Kirchenlieder in Frage, da die Melodie sehr beliebt war, und vielleicht ist in unserem Zusammenhang am ehesten an die Umdichtung von Psalm 6 zu denken: "Ach Herr, mich armen Sünder straf nicht in deienem Zorn. Dein'n ernsten Grimm doch linder, sonst ists mit mir verlorn". Wir können jedenfalls sicher sein, dass Bachs Zeitgenossen wussten, welches Lied Bach zitiert hat, da ihre Kenntnisse der Gesangbuchlieder ebenso gross war wie ihre Bibelkenntnis. Und wie sie so werden auch wir gleich zu Beginn des Satzes, lange bevor der Choral viestimmig von den Bläsern vorgetragen wird, mit ihm konfrontiert, erklingt doch vom ersten Takt an die erste Choralzeile in langen Notenwerten im Orchesterbass.

Auf den vollen Eingangschor folgen noch drei nur sparsam instrumentierte Continuosätze. Das Tenorrezitativ Nr. 2 schildert auf echt barocke Weise die moralischen Krankheiten der bösen Lust, der hässlichen Ehrsucht, der zehrenden Geldsucht und ruft verzweifelt nach Hilfe. Die Bassarie Nr. 3 kennt diese Hilfe: Es ist die Salbe aus dem an Balsam reichen Gilead, dem Land jenseits des Jordans, von der Jeremia gesprochen hat. Und es ist der Arzt Jesus, zu dem zu fliehen sich der Mensch im Sopranrezitativ Nr. 4 entschliesst, um ihm dann nach der Heilung - wie der Samariter! - lebenslang zu danken. "Fliehe" und "lebenslang" werden in diesem Rezitativ durch Melismen hervorgehoben. In der Kantate ist nun textlich und musikalisch der Wendepunkt erreicht. Eine tänzerische menuettartige Arie schliesst sich an, bei der auch die Blasinstrumente wieder mitwirken. Schöner als Alfred Dürr kann man sie nicht beschreiben: "Die Musik klingt zart, liedhaft, ätherisch; man wird an barocke Darstellungen musizierender Engel erinnert - nicht zuletzt natürlich durch deren Erwähnung im Text." Auch im Schlusschoral geht der Blick über das Irdissche hinaus in den Himmel, wo ewiglich das Danklied erklingen soll. Gesungen wird auf die Melodie des Sterbeliedes "Freu dich sehr, o meine Seele, und vergiss all Not und Qual".

Von der göttlichen Regierung und Vorsorge
So ist im Musicalischen Gesangbuch von Georg Christian Schemelli, bei dem Johann Sebastian Bach mitgearbeitet hat, die Rubrik überschrieben, in der das Lied "Was Gott tut, das ist wohlgetan" eingeordnet ist. Es war ein ausserordentlich beliebtes und viel verwendetes Lied, das 1674 von Samuel Rodigast gedichtet im Jahre 1681 von dessen Freund Severus Gastorius mit einer eigenen Melodie versehen worden ist. Das darin ausgedrückte unerschütterliche Vertrauen in Gottes Führung wird dadurch hervorgehoben, dass jede der sechs Strophen devisenartig mit der immer gleichen Zeile "Was Gott tut, das ist wohlgetan" beginnt. In Bachs Kantatenwerk kommt das Lied mehrfach vor, darunter zweimal als Choralkantate, wobei die Besonderheit der im heutigen Konzert erklingenden Kantate BWV 100 darin besteht, dass der originale Choraltext durch alle Strophen hindurch beibehalten wurde, ohne dass Bach auch an der Melodie festgehalten hat. Nur der Eingangs- und der Schlusschor sind Choralbearbeitungen, während die Strophen 2 bis 5 des Liedes als freie Arien vertont sind. Im Quartsprung, mit dem die Arien Nr. 2, 3 und 4 beginnen, sind allerdings Anklänge an die Choralmelodie enthalten. Die Kantate ist in den 1730er Jahren entstanden; für welche Bestimmungt ist unbekannt, da die Angaben fehlen. Neu komponierte Bach damals freilich nur die vier Arien, während er für die Umrahmung bereits bestehende Sätze verwendete, sie aber mit reicherer Instrumentierung versah, indem er Hörner und Pauken hinzufügte. So stammt der Eingangschor aus der gleichnamigen Kantate BWV 99 "Was Gott tut, das ist wohlgetan", der Schlusschoral dagegen aus der Kantate BWV 75 "Die Elenden sollen essen". Die dazwischen liegenden Arien weisen ein wechselndes Instrumentarium auf. So ist die Arie Nr. 2, ein Duett für Alt und Tenor, als Continuosatz gestaltet, während in der Arie Nr. 3 die Sopranstimme von einer Traversflöte mit weit ausladenden Passagen umspielt wird. Die Bassarie Nr. 4 ist als tanzartiger Streichersatz in fröhlichem Dur gestaltet, auf den die in moll stehende Altarie Nr. 5 mit obligater Oboe d'amore folgt. Die Aussage des Liedtextes: "Der Kelch, der bitter schmeckt nach meinem Wahn" ist bei der Wahl der Tonart wohl bestimmend gewesen.

Per ogni tempo - zu jeder Zeit
Bei einigen Kantaten hat Bach die Angabe "per ogni tempo" hinzugefügt, d.h. nicht nur an eienm bestimmten Sonn-oder Festtag seien sie aufzuführen, sondern immer. Die Kantate "Ich hatte viel Bekümmernis" BWV 21 gehört dazu, ebenso die Kantate "Jauchzet Gott in allen Landen" BWV 51. Auch wenn bei der Kantate BWV 100 diese Angabe fehlt, ist auch bei ihr eine Aufführung jederzeit möglich. Warum also nicht im Zusammenhang mit dem Evangelium von der Heilung der 10 Aussätzigen, besonders da ja auch in ihr von Gott als Arzt und Wundermann gesprochen wird. Ein weiter Bogen spannt sich so von der anfänglichen Verzweiflung des sündigen Menschen: "Ach, wo hol ich Armer Rat?" hin zum unerschütterlichen Gottvertrauen am Schluss: "Was Gott tut, das ist wohlgetan ... darum lass ich ihn nur walten."

Helene Werthemann