Bachkantaten in der Predigerkirche
So. 13. August  2006, 17 Uhr

 

Einführung

Im lutherischen Gottesdienst zur Bach-Zeit, insbesondre in einer Universitätsstadt wie Leipzig, konnten einige liturgische Teile noch lateinisch gesungen werden, so z.B. Kyrie , Gloria und Credo , dazu für die Vesper das Magnificat . Bach hat bekanntlich fünf
Kyrie-Gloria
-Messen (dieser Begriff stammt von Konrad Küster) geschrieben; die erste - ebenfalls nur die Sätze Kyrie und Gloria umfassend - widmete er als Missa h-Moll 1733 dem neuen sächsischen Kurfürsten Friedrich August II.

Missa in g-Moll

Die Messe in g-Moll BWV 235 entstand um 1738/39; ein eindeutiges Aufführungsdatum ist nicht belegt. Bach hat für alle sechs Teile dieses Werkes Sätze aus geistlichen Kantaten als Vorlagen verwendet, die er bereits 1726 komponiert hatte. Damit läuft die Parodie nach dem Muster geistlich -- geistlich. Dadurch entstehen (aus moderner Sicht) weniger Probleme der Affektverschiebung oder -verfremdung. In der Regel genügt es, die Silbenverteilung des neuen Textes sorgfältig vorzunehmen. Der besseren Übersicht halber seien die Sätze und ihre Vorlagen einzeln aufgelistet.

 

Messesatz
BWV 235

Art

Vorlage

BWV

Kyrie

Chor

Herr, deine Augen sehen
nach dem Glauben

102/1

Gloria

Chor

Alles nur nach Gottes Willen

72/1

Gratias

Bassarie

Darum sollt ihr nicht sorgen

187/4

Domine Fili

Altarie

Du Herr,
du krönst allein das Jahr

187/3

Qui tollis

Tenorarie

Gott versorget alles Leben

187/5,
(urspr. Sopranarie)

Cum Sancto
Spiritu

Chor

Es wartet alles auf dich

187/1

Dass die Neufassung auf den unbefangenen Hörer nicht wie ein Potpourri von drei Kantaten wirkt, sondern wie eine Komposition aus einem Guss, ist Bachs geschickter Bearbeitungstechnik zu verdanken.

Während der erste Chorsatz (Kyrie) abgesehen von der Textverteilung unverändert übernommen wird, transponiert Bach den zweiten Chor (Gloria) einen Ganzton tiefer, um die Anfangstonart g-Moll beizubehalten, streicht das 16taktige Orchestervorspiel, um das Gloria direkt anschliessen zu können und greift hie und da rhythmisch oder melodisch verändernd ein. Die bereits in g-Moll stehende Bassarie hätte keiner Transposition bedurft; durch eine Versetzung nach d-Moll erreicht Bach aber eine schöne tonartliche Bewegung der folgenden Mittelsätze in der Abfolge d - B - Es. In der um knapp 40 Takte verlängerten Altarie baut Bach einige zusätzliche Koloraturen und Modulationen ein; zudem führt er die Oboe selbständig und nicht mehr colla parte mit der ersten Geige. So kann sich ein konzertanter Dialog zwischen Oboe und Streichern oder Oboe und Altstimme entfalten. Die folgende Arie, die in der Vorlage dem Sopran zugedacht war, weist Bach nun dem Tenor zu und komponiert den zweiten Teil quasi neu, wohl um dem festlichen Charakter des "Quoniam tu solus sanctus" gerecht zu werden (ursprünglicher Text: "Weicht ihr Sorgen"). Der Schlusschor wurde abgesehen von der Textänderung lediglich um das Orchestervorspiel gekürzt und mit einer neuen, rein chorischen Exposition versehen.

Rezeptionsgeschichtlich gesehen ist es bemerkenswert, dass die Bachschen Messen nach seinem Tod früher bekannt und geschätzt wurden als seine Kantaten, mit deren als barock und schwülstig empfundenen Texten viele nichts mehr anfangen konnten. Eine umgekehrte Bewegung lässt sich dann seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachten: Fasziniert von der Kantatenwelt scheinen die Messen für viele plötzlich katholisch und befremdlich. Noch Albert Schweitzer (1908) bezeichnete diese Werke als "oberflächlich und zum Teil geradezu sinnlos". Bach habe sich um die Neubearbeitung nicht im geringsten gekümmert und nicht einmal "auf sinngemässe Deklamation" Rücksicht genommen.

Indem das Kyrie der g-Moll Messe heute seiner Vorlage gegenübergestellt wird, kann die geneigte Hörerschaft Schweitzers Urteil überprüfen.

 

"Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben"

Die Kantate 102 gehört zu den ersten Kantaten überhaupt, die bereits 1830 durch einen Klavierauszug der breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden. Sie entstand für den 10. Sonntag nach Trinitatis und erklang zum ersten Mal am 25. August 1726.

An diesem Tag wurde das Evangelium aus Lk. 19, 41-48 verlesen: Jesus weint über Jerusalem, verheisst deren Zerstörung und vertreibt die Händler aus dem Tempel. Bach verwendet hierfür - wie für viele Kantaten des Jahrs 1726 - einen Text aus dem Meininger Kantatenzyklus seines Verwandten Johann Ludwig Bach, der allerdings nicht konkret auf diesen Evangeliumstext Bezug nimmt. Das einheitliche Muster der Meininger Libretti scheint Bach fasziniert zu haben: Text (AT) - Rezitativ - Arie - Text (NT) - Arie - Rezitativ - Choral. Die ganze Kantate ist ein flammender Aufruf zur Busse, zur Bekehrung. Während der Eingangschor der 1723 zum gleichen Sonntag entstandenen Kantate 46 einen Vers aus den Klageliedern des Propheten Jeremia aufgreift, kommt im ersten Satz von BWV 102 der Prophet selbst zu Wort (Jer. 5, 3). Hier schwingt zwischen den Zeilen die grosse Frage der Theodizee mit: Wenn Gott allmächtig ist, wieso lässt er es zu, dass der Mensch sich von ihm entfernt? Wie passen die Gerechtigkeit Gottes und des Menschen freier ("verkehrter") Wille zusammen? Durch Plagen oder Sanftmut, Gnade und Langmütigkeit kommt Gott uns entgegen - allein, der Mensch bleibt verstockt und unbussfertig. Durch den ganzen Text zieht sich ein schwerer, nachdrücklicher Ernst, immer spürt man den warnenden Zeigefinger des "gerechten Gerichts Gottes". Auch der neutestamentliche Text (Röm 2, 4-5 = Bassarie) bringt nur einen leisen Hoffnungsschimmer. Erst im Schlusschoral - einem Busslied - wechselt die Perspektive von der zweiten in die erste Person in der Bitte um den richtigen kairos , das Heute-Noch der Christusbegegnung.

Der Eingangschor ist eine rhetorisch äusserst plastische Vertonung mit ausgefallener und bisweilen schmissiger Melodik und immenser rhythmischer Eindringlichkeit. Stellt man sich einmal die Textwiederholungen vors Auge, lässt sich auch die grossartige Form dieses Satzes entdecken:

 
Orchester-Vorspiel
     Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben! (Altsolo)
Überleitung
     Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben, (tutti)
     Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben,
     Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben! (Sopransolo)
Überleitung
     Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben, (tutti)
     Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben!
           Du schlägest sie, aber sie fühlen es nicht; du plagest sie, aber sie bessern sich nicht.
     Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben,
     Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben!
Orchesterritornell
           Du schlägest sie, aber sie fühlens nicht; du plagest sie, aber sie bessern sich nicht, (Fuge I)
           Du schlägest sie, aber sie fühlens nicht; du plagest sie, aber sie bessern sich nicht.
     Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben, (tutti)
     Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben!
Orchesterritornell
            Sie haben ein stärker Angesicht denn ein Fels und wollen sich nicht bekehren, (Fuge II: Bass, Tenor, Alt, Sopran, Violine 1/Oboe 1)
     Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben, (tutti)
     Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben!
           Du schlägest sie, aber sie fühlens nicht; du plagest sie, aber sie bessern sich nicht.
     Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben,
     Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben!

Neben den stark textabbildenden Figuren in den beiden Fugen (Staccato-Sprünge auf "schlägest sie", Tritonus-Sprünge nach oben und unten auf "härter" und "Fels") wirken die 14 Wiederholungen der ersten Textzeile wie ein mantraartiges Erinnern an die Gegenwart Gottes; man kann den Eindruck bekommen, also ob sich nichts und niemand dem prüfenden (oder schützenden) Auge Gottes entziehen könnte (spätestens dann, wenn sich diese Melodie als Ohrwurm eingenistet hat...). Die Adagio gehaltene Altarie mit obligater Oboe ist ein Meisterstück hinsichtlich der expressiven Intervallik. Sie steht in f-Moll, einer Tonart, die laut Johann Mattheson (1713) "dem Zuhörer bisweilen ein Grauen oder einen Schauder verursachen" will. In der den ersten Teil beschliessenden Bassarie fällt das Anfangsmotiv auf (Sprung nach oben in die kleine Septim), mit dem Bach devisenartig jede Textzeile beginnt. Die bewusst falsche Textbetonung ("Vérachtest du") betont das Störrische dieser Seelenhaltung; richtiggehend nervig wirkt die viermalige Wiederholung eines dreitönigen Motivs über den Worten "deinem verstockten und unbussfertigen Herzen". Wohltuend sind dagegen die weite Koloratur zum Wort "Offenbarung" und der offene, kadenzlose Schluss ("Langmütigkeit").

Der zweite Teil beginnt wieder in g-Moll mit einer virtuosen Tenorarie mit obligater Traversflöte, die in einer späteren Fassung durch Violino piccolo ersetzt wurde. Bach kontrastiert die beiden Affekte des Erschreckens (vorwärtsdrängende, springende und abgerissene Figuren) und der göttlichen Geduld (ruhige Bassbewegung, lange ausgehaltene Noten im Tenor); darüber exponiert die Traversflöte eine eigene melodische Stimme, die an manchen Stellen an die Flötensonate BWV 1034 erinnert. Im folgenden Recitativo accompagnato mit einem signalartigen, wiederholten Motiv in den beiden Oboen tickt gewissermassen die Uhr ("willst du die Zeit verlieren"), ruft das Todesglöcklein zur Umkehr. Ein schlichter zweistrophiger Schlusschoral in c-Moll setzt einen kadenzartigen Bezug zum strengen g-Moll des Anfangs dieser Kantate. Drückt g-Moll bei Bach eine starke und oft dramatische Bewegung aus, so kommt c-Moll zur Ruhe, die oft eine Ruhe des Todes ist. Dass der Schlussakkord dann doch in C-Dur steht, ist nicht bloss barocke Konvention ('Schlüsse müssen Dur sein'), sondern Ausdruck christlicher Auferstehungshoffnung.

Jörg-Andreas Bötticher