Bachkantaten in der Predigerkirche
So. 9. Juli 2006, 17 Uhr

Die goldene Regel
Das Evangelium, auf das sich die Kantaten des 4. Sonntags nach Trinitatis beziehen, stammt aus der Bergpredigt, und zwar in jener Form, wie sie Lukas überliefert hat (Lukas 6, Verse 36 bis 42). Martin Luther hat dazu gesagt: "Im heutigen Evangelio lehrt unser lieber Herr Christus seine Jünger und uns alle, wie wir gegeneinander uns halten und christlich leben sollen." Es geht um das neue Leben des gläubig gewordenen Menschen, das in Barmherzigkeit dem Nächsten gegenüber bestehen soll sowie negativ im Verzicht auf Richten und Verdammen, dafür positiv im Vergeben und im reichlich Geben. Zusammengefasst werden die Anweisungen Jesu in der goldenen Regel: "Alles nun, das ihr wollet, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen."

Gib mir ein neues Leben
Die Kantate 177 "Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ" ist eine Choralkantate. Ihr liegt das fünfstrophige Lied aus der Reformationszeit zu Grunde, das wohl von Johann Agricola stammt und das beim neuen Leben in echt lutherischer Weise den Akzent nicht auf das Verdienst des Menschen legt, sondern allein auf Gottes Gnade und Gunst: "Es kann niemand ererben noch erwerben durch Werke deine Gnad, die uns errett vom Sterben." Das Lied gehörte in der lutherischen Kirche als sogen. De-tempore-Lied (d.h. nach der Zeit des Kirchenjahres) zu den Hauptliedern des 4. Sonntas nach Trinitatis. Die Kantate 177 wurde von Bach wahrscheinlich auf den 6. Juli 1732 komponiert. Sie unterscheidet sich von den Kantaten des Choralkantetenjahrgangs 1724/25 dadurch, dass der Liedtext nicht umgedichtet, sondern durch alle Strophen hindurch im Wortlaut beibehalten wurde. Das hinderte Bach aber nicht daran, die Strophen 2 bis 4 als freie Arien zu vertonen und sich dabei von der Choralmelodie - nach Anklängen in Strophe 2 - ganz zu entfernen.

Der Eingangschor Nr. 1 ist ein grossangelegter Choralsatz mit dem Cantus firmus im Sopran, der durch die Unterstimmen mit meist choralfreier Motivtik eingeleitet wird. Die Singstimmen sind eingebettet in einen selbständigen Orchesterpart. Dieser wird durch eine Figur geprägt, die die Solovioline und die Streicher einander zuspielen. Die Arien Nr. 2, 3 und 4 sind für Alt, Sopran und Tenor gesetzt. Ihre Instrumentierung ist durch eine Steigerung gekennzeichnet, die vom Continuosatz (Arie Nr. 2) über einen Triosatz mit Oboe da Caccia (Arie Nr. 3) bis hin zum Quartettsatz mit Violine und Fagott (Arie Nr. 4) geht. In der im 6/8-Takt stehenden Sopranarie Nr. 3 tritt zum ersten Mal die Durtonart auf. Diese Arie klingt (nach Alfred Dürr) dank den warmen Klängen der Oboe da Caccia tröstlich und versöhnlich. In der Arie Nr. 4 fällt die deutliche Hervorhebung des Wortes "Sterben" auf. Dies ist ein bei Bach recht häufig zu beobachtendes Phänomen. Vielleicht geht es auf jene alte Leipziger Tradition zurück, nach welcher der biblische Satz aus dem Philipperbrief: "Sterben ist mein Gewinn" adagio gesungen wurde. Die Kantate schliesst mit der vierstimmig gesetzten, von Bach durch Verzierungen und Durchgangsnoten ausdrucksstark vertonten 5. Strophe: "Ich lieg im Streit und widerstreb, hilf, o Herr Christ, dem Schwachen". Sie fasst das reformatorische Grundanliegen "sola gratia - allein durch Gnade" noch einmal zusammen.

Der liebe Gott behüte mich davor!
Der Dichter der Kantate 24 "Ein ungefärbt Gemüte" ist bekannt. Es ist Erdmann Neumeister (1671-1756), bibelfester lutherischer Kanzelredner, Lehrer der Poetik und Erfinder der damals modernen Kantate. Zur Freude der Musiker und zum teilweisen Entsetzen der Frommen, die darin so etwas wie den Einbruch des Theaters in die Kirche sahen, übernahm Neumeister die aus der italienischen Opernmusik stammenden Formen des Rezitativs und der Arie und füllte sie mit geistlichem Inhalt. Er erzählt selber, wie er am Sonntag nach gehaltener Predigt den Hauptinhalt seiner Kanzelrede zu seiner Privat-Andacht in poetische Form zu giessen pflegte, und diese Dichtungen wurden dann ab 1700 in verschiedenen Jahrgängen seiner "Geistlichen Cantaten statt einer Kirchen-Music" gedruckt. Theologisch hatte er sich nach anfänglichen Neigungen zum Pietismus zu einem rechtgläubigen Lutheraner und wortmächtigen Prediger gewandelt, der seinen Schäfchen die Leviten gründlich zu lesen wusste.

Es ist anzunehmen, dass auch die Kantate 24 auf diese Weise entstanden ist, deren Rezitative Nr. 2 und 4 ganz von der Rednergabe des Pastors Neumeister geprägt sind. Mit zahlreichen Bibelzitaten und in lebendigen Bildern beklagt er in ihnen das Fehlen von Redlichkeit und das Überhandnehmen von Heuchelei, das auch bei Christen festzustellen sei, und er endet mit dem emphatischen Ausruf: "Der liebe Gott behüte mich dafür". Die beiden Arien Nr. 1 und 5 sind milder gestimmt, indem sie positiv von der Bedeutung wahrer Tugenden sprechen. Vielleicht darf dabei auf die Nuance hingewiesen werden, dass in der ersten Arie das ungefärbte Gemüte "uns vor Gott und Menschen schön" und in der zweiten Arie die tugendreiche Güte "uns Gott und Engeln gleich" macht. Das Wort "ungefärbt" in der ersten Zeile ist übrigens im Sinn von "ohne Falsch" zu verstehen, und das Wort "deutsch" in der zweiten Zeile hat die Bedeutung von "redlich, ehrlich, trefflich". Neumeister hat schliesslich seine frei gedichtete Predigtzusammenfassung durch das wörtliche Bibelzitat der goldenen Regel (im Wortlaut des Matthäusevangeliums 7,12) als Nr. 3 und den Schlusschoral als Nr. 6 vervollständigt.

Die Kantate 24 in Bachs Vertonung
Was hat nun Bach mit dieser Textvorlage gemacht, die er in seinem ersten Leipziger Amtsjahr für den 20. Juni 1723 vertont hat? Er hat eindeutig ihre symmetrische Anordnung um die biblische Mitte herum erkannt, und er hat dieser Mitte das nötige Gewicht gegeben, indem er das Jesuswort nicht der Solobassstimme übertrug, sondern dem Chor. Der Satz ist zweiteilig bei gleichem Text. Auf einen freien Chorsatz folgt eine Chorfuge, bei der zu den duplierenden Instrumenten eine Solotrompete hinzutritt. Den Abschluss macht eine thematisch auf den Anfang zurückbezogene Coda. Diesem mittleren Satz geht die Arie Nr. 1, ein Triosatz für Streicher und Alt, sowie das Reitativ Nr. 2 voraus, das vom Tenor gesungen wird. Es ist ein Seccorezitativ mit ariosem Ausklang. Das Rezitativ Nr. 4, das auf den Chorsatz folgt, ist ausinstrumentiert, ebenfalls mit ariosem Ausklang. Es ist der Bassstimme vorbehalten, die aber hier sicher nicht die Stimme Christi ist, sondern eher die des Kanzelredners, dessen Sprachgewalt dem Komponisten freilich sehr entgegenkommt! Wieder dem Tenor zugeteilt ist die Arie Nr. 5: "Treu und Wahrheit sei der Grund aller deiner Sinnen", die inhaltlich mit dem Tenorrezitativ Nr. 3 verwandt ist. Abgeschlossen wird die Kantate mit der Choralstrophe "O Gott, du frommer Gott", deren Zeilen durch einen selbständigen Orchestersatz begleitet und durch Zwischenspiele von einander abgetrennt werden. Tröstliche Ruhe fern aller Kanzelschelte strahlt von diesem Satz aus. "Mens sana in corpore sano" wird in ihm erbeten: "Gesunden Leib gib mir, und dass in solchem Leib ein unverletzt Seel und rein Gewissen bleib."

Helene Werthemann