Bachkantaten in der Predigerkirche
So. 12. März 2006, 17 Uhr
 
 

Keine Figuralmusik in Leipzig in der Fastenzeit

Der heutige Sonntag Reminiscere ist der zweite Fastensonntag. Er hat seinen Namen vom Einzugspsalm des Hauptgottesdienstes: "Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte" (Psalm 24 [25], Vers 6). Da in Leipzig in der Fastenzeit keine Figuralmusik aufgeführt wurde, gibt es keine Kantate von Johann Sebastian Bach auf diesen Sonntag. Es existiert auch keine aus seiner Weimarer Zeit, wo es eine ähnliche musikalische Abstinenz wie in Leipzig nicht gegeben hat. Aus diesem Grund ist die Wahl für die heutige Kantatenmusik auf eine der vier lateinischen Kurzmessen gefallen, die in den späten 1730er Jahren entstanden sind. Alle vier Messen umfassen nur Kyrie und Gloria, d.h. die beiden ersten Teile des Messordinariums, die auch in der Bachzeit noch fester Bestandteil der lutherischen Liturgie gewesen waren. Sie erklangen dort freilich nur an den hohen Festtagen als lateinische Figuralmusik; in der übrigen Zeit wurde das dreiteilige deutsche Kyrielied "Kyrie, Gott Vater in Ewigkeit", "Christe, aller Welt Trost", "Kyrie Gott, Heiliger Geist" sowie das deutsche Gloria "Allein Gott in der Höh sei Ehr" gesungen. Allen vier Messen ist gemeinsam, dass Bach bereits bestehende Musik dafür verwendet hat. Man nennt dieses damals übliche Verfahren Parodieverfahren, was nicht in einem abwertenden Sinn zu verstehen ist. Da aber im 19. Jahrhundert der grosse Bachforscher Philipp Spitta sich negativ zu dieser Art von Musik geäussert hatte, musste ein positives Verhältnis zu ihr erst wieder gewonnen werden. Das geschah durch eine genaue Analyse von Bachs Arbeitsweise, welche zu Tage förderte, wie bewusst er die Musik aus seinen Kantaten ausgewählt und wie differenziert er sie dann dem neuen Text angepasst hat.

Missa brevis in A-Dur (BWV 234)

Auch bei der A-Dur-Messe ist anzunehmen, dass Bach für alle ihre Teile bereits bestehende Musik verwendet hat. Die Vorlagen sind uns aber nicht mehr alle bekannt. So fehlt sie für das dreiteilige Kyrie, in dem ein sehr ausdrucksstarkes "Christe eleison" von den beiden "Kyrie eleison" umrahmt wird, vom lieblichen ersten und vom lebhaften zweiten. Das Gloria umfasst fünf Teile. Der erste Teil erstreckt sich textlich vom biblischen "Ehre sei Gott in der Höhe" aus der Weihnachtsgeschichte über die Lobpreisungen ("Wir loben dich, wir preisen dich, wir beten dich an, wir verherrlichen dich") bis zum abschliessenden "Dank sagen wir dir um deiner grossen Herrlichkeit willen". Die von Bach dafür verwendete Musik stammt aus der Kantate 67 "Halt im Gedächtnis Jesum Christ" vom 1. Sonntag nach Ostern. In ihr wird in einem steten Wechsel der Gegensatz zwischen tumultartigen Kampfszenen und dem Friedensgruss des Auferstandenen dargestellt. Dieser Wechsel von vivace und adagio e piano ist auch in der Messe beibehalten, das fanfarenartige Kampfmotiv des Orchesterritornells ist nun aber zum Ausdruck für Lobpreis geworden, und das Friedensmotiv wird jetzt auch zum Text "Wir beten dich an" verwendet und wunderbar gesteigert zum abschliessenden "Wir sagen dir Dank". Diese Neuverwendung war deshalb möglich, weil die musikalischen Figuren an sich ja mehrdeutig sind und eindeutig erst durch das unterlegte Wort werden. - Die Vorlage zur Bassarie mit Violine solo "Domine Deus" ist unbekannt. Die Arie ist dreiteilig, sie ruft im ersten Teil Gott Vater an, in den Teilen zwei und drei Jesus Christus als Sohn Gottes, wobei im dritten Teil seine Bezeichnung als Agnus Dei bereits auf die folgende Arie "Qui tollis peccata mundi" hinweist. Die Vorlage dieser Arie ist bekannt. Es ist die Sopranarie "Liebster Gott, erbarme dich" aus der Kantate 179, deren Text mit dem Messtext eng verwandt ist. Bach hat freilich musikalisch vieles umgearbeitet; am Eindrücklichsten ist wohl, dass durch das Fehlen des Basso continuo die Arie etwas Schwebendes bekommt. Der Altarie "Quoniam tu solus sanctus" liegt die Arie "Gott ist unser Sonn und Schild" aus der Kantate 79 zu Grunde und dem Schlusschor "Cum sancto spiritu" der Eingangschor der Kantate 36 "Erforsche mich Gott, und erfahre mein Herz". Es ist eine Chorfuge, die etwas sehr Konzertantes an sich hat und die Messe glanzvoll abschliesst.

Das Gleichnis vom Ackerfeld

Neben der Missa brevis erklingt auch am heutigen Sonntag eine Kantate. Es ist die Kantate 181 "Leichtgesinnte Flattergeister". Sie gehört auf den Sonntag Sexagesimae, den zweiten Sonntag der Vorfastenzeit, an dem auch in Leipzig noch Kantaten aufgeführt wurden. Das ihr zu Grunde liegende Sonntagsevangelium ist das Gleichnis vom Sämann, der ausgeht zu säen und dessen Samen auf ganz verschiedene Böden fällt, nämlich auf den Weg, auf Felsen, unter Dornen und endlich auch auf guten Boden. Mit dem ausgesäten Samen ist, so nach der von Jesus hinzugefügten Erklärung, das Wort Gottes gemeint, und das vierfache Ackerfeld zeigt vier verschiedene Möglichkeiten auf, dieses Wort zu hören und zur Wirkung kommen zu lassen. Nur in einem von den vier Fällen freilich wird es Frucht bringen können. In der Kantaten 181, die in Bachs erstem Leipziger Amtsjahr am 13. Februar 1724 zum ersten Mal aufgeführt wurde, gehen die vier Möglichkeiten zum Teil fliessend ineinander über. Die Eingangsarie für Bass "Leichtgesinnte Flattergeister" beginnt mit dem Samen, der auf den Weg fällt, dort zertreten und von den Vögeln gefressen wird. Sie nimmt aus Psalm 119, Vers 113 die Wortschöpfung "Flattergeister" auf - von Bach anschaulich vertont - und aus dem Evangelium den Teufel (Belial), der den Samen aus den Herzen wegnimmt. Auch er ist musikalisch hervorgehoben. Das Altrezitativ knüpft an die Bassarie mit dem Ausruf an: "O unglückselger Stand verkehrter Seelen, so gleichsam an dem Wege sind" und geht dann in einem ariosen Einschub zu den Felsenherzen über. Diese sind härter als die in der Bibel erwähnten Felsen, die sich doch haben öffnen und erweichen lassen - durch Christi Todesschrei (Matth. 27,52), durch den Engel am Ostermorgen (Matth. 18,2), durch den Stab des Moses (2. Mos. 17,2). Von den Dornen, die den Samen ersticken, ist in der Tenorarie Nr. 3 die Rede, und dieser Gedanke wird auch im folgenden Sopranrezitativ aufgenommen. Dann wird das gute Land geschildert, das es zu bereiten gilt, damit die Kraft des Wortes sich entfalten kann. Nicht ein Choral steht am Ende der Kantate, sondern ein Schlusschor, der in seiner "fröhlichen Unkompliziertheit" (so Alfred Dürr) möglicherweise weltlichen Ursprungs ist.

Leichtsinnig - leichten Sinnes

Dass die Menschen das Heil leichtsinnig verscherzen könnten, das war durch die Jahrhunderte hindurch ein beliebtes Thema der Sonntagspredigten (auch im alten frommen Basel im Zusammenhang mit der Fastnacht!). Auch Bach kann strenge Themen streng vertonen. Aber stets dient seine Musik auch "denen Liebhabern zur Gemüths-Ergötzung" und lässt sie leichten Sinnes werden.

Dr. theol. Helene Werthemann