Bachkantaten in der Predigerkirche
So. 12. Februar 2006, 17 Uhr
 

Der Sonntag Septuagesimae und sein Evangelium            
Der heutige Sonntag bedeutet eine Wende im Kirchenjahr: Der Weihnachtsfestkreis ist abgeschlossen, der Osterfestkreis beginnt. Am Anfang dieses neuen Kirchenjahrabschnittes steht die Vorfastenzeit, deren drei Sonntage Septuagesimae, Sexagesimae und Quinquagesimae heissen. Die Bedeutung dieser Zahlen (Sonntag des 70., 60., 50. Tages) ist nicht mehr mit letzter Sicherheit auszumachen. Bezogen sind sie jedenfalls auf das Osterfest, dem eine 40tägige Fastenzeit vorangeht, und vielleicht hat man dann einfach die Sonntage der Vorfastenzeit mit Pauschalzahlen von 10 zu 10 aufsteigend benannt.

Als Evangelium wird am heutigen Sonntag das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg verlesen (Matthäus 20,1-16). Es ist die irritierende Geschichte von jenem Hausherrn, der fünfmal am Tag zu ganz verschiedenen Stunden Mitarbeiter einstellt und mit allen den gleichen Taglohn ausmacht. Als es dann am Abend zur Auszahlung kommt, murren diejenigen, die den ganzen Tag gearbeitet haben, weil sie nicht mehr bekommen sollen als jene, die nur eine Stunde da waren. Vom Besitzer des Weinbergs wird einem von ihnen aber geantwortet: "Mein Freund, ich tue dir nicht Unrecht. Nimm, was dein ist, und gehe hin. Ich will aber diesem letzten geben gleich wie dir. Oder habe ich nicht Macht, zu tun, was ich will, mit dem Meinen? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin? Also werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein. Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt." Es sei angefügt, dass zu Beginn der Geschichte das Reich der Himmel mit diesem souveränen Hausherrn verglichen wird.

Gottes Fügung - Genügsamkeit - Vergnügung
Die Kantate 144 geht ohne jede Einleitung wortwörtlich vom Sonntagsevangelium aus: "Nimm, was dein ist, und gehe hin", von Bach als motettische Chorfuge vertont, bei der die Instrumente colla parte mit den Singstimmen gehen und nur der Basso continuo teilweise selbständig ist. Schon immer wurde die Deklamationskunst Bachs in diesem Satz gerühmt, mit der er den Gegensatz zwischen dem strengen Befehl "Nimm, was dein ist" und der eher spielerischen Aufforderung "gehe hin, gehe hin" gestaltet hat. Auch in der folgenden Altarie "Murre nicht, lieber Christ", die als Da capo-Arie vertont ist, finden sich wörtliche Anklänge an das Evangelium. Ihr Charakter ist tanzartig und lässt etwas von der Zufriedenheit spüren, die aus der Ergebung in Gottes Willen fliesst. Der Choral "Was Gott tut, das ist wohlgetan" unterstreicht dies auf eindrückliche Weise. In der zweiten Hälfte der Kantate steht dann der Gedanke der Genügsamkeit ganz im Zentrum. Das Secco-Rezitativ für Tenor "Wo die Genügsamkeit regiert" vergleicht Genügsamkeit mit Ungenügsamkeit und ihren jeweiligen Folgen und nimmt am Schluss die erste Zeile des eben verklungenen Chorals "Was Gott tut, das ist wohlgetan" auf. Sie wird von Bach arios, aber unabhängig von der Choralmelodie vertont. Eine letzte Arie ist textlich so gebaut, dass "Genügsamkeit" ihr erstes und ihr letztes Wort ist. Bach hat sie sehr konzertant für Sopran und obligate Oboe d'amore gesetzt, und zwar so, dass an Stelle des erwarteten da capo noch einmal der ganze Text wiederholt wird, gipfelnd in einer fast endlosen Wiederholung des Wortes "Genügsamkeit". Den Abschluss der Kantate bildet die erste Strophe des Liedes "Was mein Gott will, das gscheh allzeit". Die Kantate wurde am 6. Februar 1724 in der Thomaskirche zu Leipzig zum ersten Mal aufgeführt. Der originale Textdruck "Zur Leipziger Kirchen-Music" ist erhalten.

Ich hab in Gottes Herz und Sinn mein Herz und Sinn ergeben
Dass die ebenfalls auf den Sonntag Septuagesimae gehörende Kantate 92 lang und komplex ist, hängt wohl in erster Linie mit ihrem Text zusammen. Es ist eine Choralkantate, der ein 12strophiges Lied von Paul Gerhardt zu Grunde liegt. Gedichtet wurde es auf die Melodie des Liedes "Was mein Gott will, das gscheh allzeit", mit dem die Kantate 144 geschlossen hat. In der Kantate von Bach sind 5 Strophen des Gerhardtliedes im Wortlaut beibehalten, von denen zwei durch Rezitative erweitert wurden. Alle übrigen Strophen wurden von einem unbekannten, sehr bibelfesten, aber auch die musikalischen Bedürfnisse kennenden Kantatendichter zu Rezitativen und Arien umgestaltet, manchmal in nur lockerer Verbindung zum Liedtext, dafür aber erweitert durch viele biblische Anklänge. Sozusagen keine Rolle spielt dabei das Sonntagsevangelium, abgesehen von der schon bekannten Bereitschaft, sich in Gottes Willen zu ergeben und zufrieden zu sein. Die Kantate erklang am 28. Januar 1725 in Bachs zweitem Leipziger Amtsjahr im Rahmen des Choralkantatenjahrgangs zum ersten Mal.

Ein Gang durch die Kantate 92
Der Eingangschor Nr. 1 ist ein grossangelegter Choralsatz im 6/8tel-Takt, der mit seiner himmlischen Länge wohltuende Ruhe ausströmt. Die Choralmelodie liegt im Sopran, während die Thematik der übrigen Vokalstimmen und die des Orchesters vom Choral unabhängig ist. Auch das Bassrezitativ Nr. 2 hält am originalen Liedtext fest, der aber zeilenweise unterbrochen und mit weiterführenden Gedanken angereichert (tropiert) wird. Gerade hier finden sich viele biblische Anklänge. So ist mit dem treuen Zeugen der Prophet Jesaja gemeint, der vom Weichen der Hügel und Hinfallen der Berge gesprochen hat (Jes. 54,10). Auch das Eingezeichnet-Sein in Gottes Hand stammt aus dem Jesajabuch (49,16). Als Beispiele für das Vertrauen auf Gott in Wassernot wird Jonas genannt, der - aus Lebensgefahr gerettet - im Bauch des Fisches zu Gott betete (Jona 3), und ebenso der sinkende Petrus, der seine Hoffnung auf Jesus setzt (Matthäus 14,30). Zentraler Inhalt des Rezitativs ist der felsenfeste Glaube an Gott. Es ist so vertont, dass der Choraltext immer mit der zum Teil leicht verzierten Melodie erscheint, während der freie Rezitativtext reiche Möglichkeiten zu lautmalerischer Vertonung bietet. Hochdramatisch ist die Tenorarie Nr. 3. Sie spricht einerseits von der Hinfälligkeit der Welt und von der Macht des Satans, anderseits aber auch vom starken Arm Gottes, mit dessen Hilfe auch die Menschen unüberwindlich werden. Durch rasche Violinpassagen und energische Rhythmen wird dies alles veranschaulicht. Wie ein ruhender Pol wirkt darauf der liebliche 4. Satz der Kantate, in dem die Altstimme, begleitet von zwei Oboi d'amore, die Liedstrophe Nr. 5 mit der unverzierten Choralmelodie singt. Auffallend ist aber auch hier, wie Bach die Worte "Leid" und "traurig" musikalisch hervorhebt. Im Tenorrezitativ Nr. 5 wird den Menschen Mut gemacht, auch in Kreuz und Leid nicht zu verzagen, sondern sich an Jesu Verhalten in seinem tausendfachen Leiden ein Beispiel zu nehmen. Das Rezitativ ist als Secco-Rezitativ vertont bis auf den eindrücklichen Schluss, bei dem das Wort "Geduld" arios hervorgehoben wird. Und noch einmal bricht in der folgenden Bassarie Nr. 6 ein Sturm los, diesmal wirklich den ungestümen Wind symbolisierend. Schon bei Gerhardt findet sich das Bild, dass Aehren nur dann voll werden können, wenn sie vom Wind bestäubt und vom Regen befeuchtet werden. Und ebenso findet sich die Vorstellung bei ihm, dass ?Ungestüm" auch dem Menschen nötig sei, weil nämlich der "Menschenwohlfahrt" lauter guter Tage nicht zuträglich seien. Beide Gedanken hat der Kantatendichter übernommen: Bei Aehren bringen rauhe Winde Frucht, bei Christenmenschen das Kreuz. Aus Gerhardts köstlicher Fortsetzung: "Die Aloe bringt bittres Weh und macht doch rote Wangen" - bittere Medizin hilft! - ist beim bibelfesten Kantatendichter in Anlehnung an Stellen über die Heilsamkeit göttlicher Zucht die Aufforderung geworden: "Küsst seines Sohnes Hand, verehrt die treue Zucht", treu, weil sie ja eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit bewirkt (so nach Hebräer 12,6f.). Die Arie ist bei Bach eine Da capo-Arie, und so beginnt das fruchtbringende Stürmen der rauhen Winden noch einmal von vorne.

Ei nun, mein Gott, so fall ich dir getrost in deine Hände
Im letzten Drittel der Kantate ändert sich die Grundstimmung. Die Dramatik fällt weg, der Blick weitet sich in die Ewigkeit. Satz 7 ist noch einmal ein tropierter Choral, anders gestaltet aber als Nr. 2. Die Choralzeilen werden vierstimmig gesungen, jeweils in der 2. Hälfte kanonisch geführt zischen Bass und Sopran. Die eingeschobenen freien Texte sind aufsteigend vom Bass über den Tenor und Alt bis zum Sopran den Solostimmen übertragen. Von unfehlbarer Seligkeit ist darin die Rede, was ermöglicht, schon hier auf Erden "bei gedämpften Saiten dem Friedensfürst ein neues Lied" zu bereiten. Dieses Lied singt in der Arie Nr. 8 der Sopran, begleitet von einer obligaten Oboe d'amore und gezupften Streichern ohne Orgelcontinuo, "gedämpft" also. Der Text dieser Arie ist am weitesten von Gerhardts Lied entfernt. Es mag freilich sein, dass das Bild vom Hirten von der Schlussstrophe angeregt worden ist, in der sich deutliche Anklänge an den 23. Psalm ?Der Herr ist mein Hirte" finden. Die wichtige, bekenntnisartige Zeile "Meinem Hirten bleib ich treu" benützt Bach zur Gliederung der Arie, bis er sie mit dem unvergleichlichen ?Amen, Vater, nimm mich an" enden lässt. Den Abschluss der Kantate bildet die letzte Strophe des Gerhardtliedes mit ihrem Ausblick in die Ewigkeit und der Hoffnung, "dass ich einmal in deinem Saal dich ewig möge ehren."

Dr. theol. Helene Werthemann