Bachkantaten in der Predigerkirche
So. 8. Januar 2006, 17 Uhr
 
Einführung

Neujahr und der Name Jesu
Die beiden Kantaten 171 (zu Neujahr 1729) und 123 (zu Epiphanias 1725) thematisieren die Betrachtung des Namens Jesu. Anlass dafür war das Fest der Beschneidung und Namensgebung Christi, welches traditionsgemäss am ersten Januar gefeiert wurde. "Und da acht Tage um waren, dass das Kind beschnitten würde, da ward sein Name genennet Jesus, welcher er genennet war von dem Engel, ehe denn er im Mutterleibe empfangen ward." (Lk. 2, 21) Dieser Evangeliumsvers bietet die Grundlage für BWV 171 (wie übrigens auch für die 4. Kantate des Weihnachtsoratoriums). Der Textdichter Picander zeigt mit Psalmversen, Bezügen aus dem Neuen Testament und persönlichen Betrachtungen die Bedeutung des Namens Jesu auf.


"Gott, wie dein Name, so ist dein Ruhm" (Psalm 48,11): Manch einem wird der Satz dieses Eingangschors bekannt vorkommen, hat ihn Bach doch um 1748 für das "Credo Patrem omnipotentem" seiner Missa umgearbeitet. Im Autograph trägt dieser Satz einen ausgesprochenen Reinschriftcharakter. Deshalb vermutet man heute, dass dieser Eingangschor ebenfalls auf eine (verschollene) Vorlage zurückgehen muss.

Der Text der Tenorarie "Herr, so weit die Wolken gehen" greift wie Satz 1 Psalmmotive auf (u.a. Ps. 36, 6). Zu der in wunderbar weiten Bögen und ausgreifenden Arpeggiomotiven schwingenden Triotextur der beiden Geigen und des b.c. tritt der Tenor als vierte Stimme hinzu; gemeinsam wird der weite Wolkengang nachgezeichnet und zum Sinnbild für die Verbreitung und Erhöhung des Ruhmes Gottes.

Das Altrezitativ (Satz 3) wirkt wie ein persönliches Glaubensbekenntnis. Wir finden das Motiv des süssen Jesusnamens, welches in vielen Liedern und Kompositionen z.B. von Monteverdi, Grandi, Schütz bis zu Gospelgesängen Einzug fand ("Sweet Jesus"). Die Textpassage "Mein festes Schloss und mein Panier" bedarf einer kurzen Erklärung: Während das feste Schloss als sicherer, uneinnehmbarer Rückzugsort (Reduit!) als Bild heute noch unmittelbar nachvollziehbar ist, spielt das Panier als Banner oder Siegesfahne im Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts weder im religiösen noch im nationalistischen Kontext eine Rolle, sondern hat sich nahezu ganz in die Bereiche des Sports und der Werbung (Logo!) verschoben.

Die Vorlage der Sopranarie "Jesus soll mein erstes Wort" stammt aus der weltlichen Kantate BWV 205. Dort besingt der Sopran als Pallas Athene den sanften Wind Zephyr.
Bemerkenswert ist, dass die Geige mit ihren Sechzehntelbewegungen den ganzen Tonraum bis zur 6. Lage ausnützt. Wohl um sie dem Tonartenplan anzupassen, transponierte Bach sie in der Neujahrskantate um einen Ton nach unten.

Den Schlusssatz hat Bach ebenfalls nicht neu komponiert, sondern der Kantate BWV 41 (1.1.1724) entnommen. Der Choralsatz wird durch Streicher und Holzbläser verstärkt, die Blechbläser fügen eigene, fanfarenartige Zwischenspiele bei. Eine Praxis, die Bach später auch im Schlusssatz der 1. Kantate des Weihnachtsoratoriums angewendet hat.

"Liebster Immanuel"
Für die Kantate 123 verwendete Bach Text und Melodie des Chorals "Liebster Immanuel" von Ahasverus Fritsch (1679). Die erste und die letzte Strophe sind unverändert beibehalten; die Mittelsätze sind freie Umdichtungen, möglicherweise von Bach selbst. Im Eingangssatz wird Jesus als Immanuel – Gott mit uns – angesprochen. Der "Herzog der Frommen" bezieht sich auf die Textstelle in Mt. 2,6 (als Zitat aus Micha 5,1): "Und du Bethlehem im jüdischen Lande bist mitnichten die kleinste unter den Städten in Juda; denn aus dir soll mir kommen der Herzog, der über mein Volk Israel ein Herr sei."

Aus der Anfangszeile des Chorals "Liebster Immanuel" bildet Bach ein passacaglia-artiges Ritornell im 9/8-Takt einer ruhigen Gigue. Nach einem 20-taktigen Vorspiel setzt der Chor mit einem relativ schlichten motettischen Chorsatz ein. Der Sopran führt die Choralmelodie. Durch die Einprägsamkeit des Anfangsmotives, die schrittweise Bewegung, die Wiederholung und die Versetzung auf verschiedene Tonstufen schafft Bach die Atmosphäre einer 'Liebeswallfahrt' der Seele auf der Suche nach ihrem Liebhaber: "Du hast mir, höchster Schatz, mein Herz genommen, so ganz vor Liebe brennt und nach dir wallt." Im Vergleich mit dem Zug der Könige im Eröffnungssatz der Kantate BWV 65 ("Sie werden aus Saba alle kommen") wird hier also der individualisierte Weg nach Bethlehem musikalisch umgesetzt, gewissermassen der Zug des 'vierten Königs'.

"Wenn ich den Jesusnamen nenne"
Während im Judentum der Name Gottes – JHWH – aus Ehrfurcht nicht genannt werden durfte und auch heute noch Gott mit ha schem (der Name) umschrieben wird, finden sich im NT geradezu hymnische Aussagen über den Namen Jesu, "der über alle Namen ist" (Phil. 2,9). Im Namen Jesu zu handeln ist der Auftrag der Jünger. Die Nennung des Namens Jesu war unmittelbar mit einer Stärkung und Erquickung der Seele verbunden. In der mystischen Tradition gab (und gibt) es die Praxis des unaufhörlichen Jesus-Christus-Gebetes. Dabei verrichtet man seine täglichen Aufgaben und bleibt von der Gottespräsenz durchdrungen, indem man das Gebet Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner mantraartig wiederholt. Nebenbei sei bemerkt, dass diese Meditationsart besonders eindrücklich in den Ende 19. Jahrhundert entstandenen "Erzählungen eines russischen Pilgers" festgehalten ist. Die in beiden Kantaten zu findende Innigkeit der Namensbetrachtung legt die Vermutung nahe, dass Bach diese spirituelle Praxis nicht unbekannt gewesen war.

"Harte Kreuzesreise"
Ganz im Sinne des antiken Redeaufbaus setzen sich die Sätze 3 und 4 der Kantate 123 mit möglichen Einwänden gegen die innige, möglicherweise naive Jesusliebe auseinander: Weder "die harte Kreuzesreise" (starke Chromatik, verminderte Septakkorde), Ungewitter (polternde Koloraturen, donnernde Begleitfiguren), noch Tod und Hölle können mich von diesem Weg abhalten. Dies ist ein von Bach häufig verwendetes Motiv: Die Betrachtung der Geburt Jesu führt unmittelbar zum Kreuzweg, Kreuz und Krippe sind verbunden.

Apart ist die Verbindung von hoher Traversflöte und tiefem Bass in Satz 5, die Bach sehr selten anwendet. Auffallend sind die harten Abwärtssprünge in die grosse Septime in der Bassstimme auf das Wort "Verachtung". Weltverachtung und Einsamkeit werden in Kauf genommen, dafür bleibt Jesus – Immanuel – "bei mir alle Zeit". Hier klingt schon die Verheissung an die Jünger an: "Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" (Mt. 28, 20). Trotz der starken Intervallik und der dramatischen Kadenz über "betrübte Einsamkeit" behält die ganze Arie deshalb einen frohen Duktus.

Der Schlusschoral fasst die Konsequenzen dieser Haltung in schlichter Form zusammen und öffnet die Perspektive über den eigenen Tod hinaus. Ausdrücklich verlangt Bach, der sonst mit dynamischen Angaben eher sparsam umgeht, für die Wiederholung der letzten Choralzeile ein piano zu den Worten: "Bis man mich einsten legt ins Grab hinein.


Beide Kantaten mit ihren zunächst etwas fremd anmutenden Texten sind auf dem Hintergrund einer pietistischen Frömmigkeit zu verstehen, gepaart mit Aspekten der mystischen Tradition, wie sie in Bachs persönlichem Glauben selbstverständlich lebten. Der Gang durch diese beiden Kantaten kann auch wie ein Prozess gesehen werden: Vom allgemeinen Lob der Grösse Gottes bis hin zum 'persönlichen Neujahrsgeschenk' Jesus, dem benennbaren, direkt ansprechbaren göttlichen Kind, das durch seine bezaubernde Anmut ein ewiges Liebesverhältnis stiftet.

Jörg-Andreas Bötticher