Bachkantaten in der Predigerkirche
So. 11. Dezember  2005, 17 Uhr
 

Einführung

Da der Advent auch im lutherischen Leipzig traditionell als Fastenzeit galt, wurde in dieser Zeit vom Cantor keine figurale Kirchenmusic verlangt. Eine Ausnahme bildete der erste Advent als Beginn des neuen Kirchenjahres. Für die heutige Aufführung greifen wir deshalb auf die zum ersten Advent entstandenen Kantaten BWV 36 und 62 zurück.

Als Sonntagsevangelium wurde die Geschichte des Einzugs Jesu in Jerusalem verlesen (Mt. 21, 1-9). Wie Jesus als König aber unerwartet sanftmütig auf einem Esel in Jerusalem einzieht, will er auch in unsere Herzen ziehen. In der altkirchlichen Exegese verbindet sich in diesem Text - in Erfüllung der alttestamentarischen Prophezeiungen - die Bewegung Jesu auf die Menschen zu mit der persönlichen Vorbereitung jedes Einzelnen auf die Gottesbegegnung.

"Schwingt freudig euch empor"
Die Kantate 36 hatte bereits eine lange Vorgeschichte, bevor sie in der am 1. Advent 1731 aufgeführten Fassung - auf der auch die heutige Aufführung beruht - ihre vermutlich letzte Gestalt fand: 1725 als weltliche Kantate zum Geburtstag eines Lehrers konzipiert (BWV 36c), erfuhr sie 1725-30 eine Umarbeitung als geistliche Kantate (BWV 36, frühere Fassung). Anhand der Veränderungen erhält man Einblick in Bachs Schaffensprozess: Selten scheint es ihm um eine letztgültige Version eines Stückes zu gehen, um einen wie auch immer heiligen Urtext. Viel eher ist in etlichen Bearbeitungen sein ruhelos schaffender Geist spürbar, der die Werke gemäss den praktischen (kirchen-)musikalischen Erfordernissen oder aufgrund eines veränderten Geschmacks umgestaltet. In dieser Kantate lassen sich gegenüber der früheren geistlichen Version hauptsächlich folgende Veränderungen feststellen:

  • Form: Die fünfsätzige Gestalt erweitert Bach um drei Sätze und teilt sie in zwei Teile, vor und nach der Predigt.
  • Instrumentarium: Im Eingangssatz fügt Bach eine zweite Oboe d'amore hinzu, die unisono mit der ersten Oboe d'amore spielt.
  • Text: Bach ändert die ursprünglichen Textunterlegung der Bassarie "Sei mir willkommen werter Schatz" zu "Willkommen, willkommen, werter Schatz". Die Geste dieser Devisenarie wird so eindeutiger und inhaltlich einprägsamer.
  • Tonart: Die Arie "Auch mit gedämpften, schwachen Stimmen" wird von A-Dur nach G-Dur transponiert und soll con sordino gespielt werden. Transposition in die weichere Subdominanttonart (zu D-Dur als Haupttonart) und instrumentale Dämpfung verstärken die Wirkung der "gedämpften Stimmen".

Der Text des Eingangschores ist auf den ersten Blick etwas unverständlich: "Schwingt freudig euch empor zu den erhabnen Sternen, ihr Zungen, die ihr itzt in Zion fröhlich seid!" Auf dem Hintergrund des Sonntagsevangeliums sind die Jesus in Jerusalem entgegen jubelnden, Hosanna schreienden Menschen angesprochen - musikalisch umgesetzt mit einem tänzerisch emporschwingenden, sehr leichten Motiv. Dieses scheint sich durch die Triolen in Geige und Oboe noch mehr zu verflüchtigen. Das zweite von Bach sinnfällig mit einer überraschenden Pause versehene Textmotiv "Doch haltet ein" mag auf die notwendige Kontemplation hindeuten: der "Herr der Herrlichkeit" kommt uns entgegen, nicht nur als zu bejubelnder Herrscher, sondern auch als Bräutigam "mit sanften Schritten", dem ich durch Liebe und Glaube in meinem Herzen Platz machen möge.
Auffallend ist, dass diese Kantate ganz ohne Rezitative auskommt. Anstelle der Rezitative schreibt Bach Choralbearbeitungen. So entsteht folgende Form:

  1. Chorus
  2. Choraltrio ("Nun komm", Strophe 1)
  3. Arie (Tenor)
  4. Choralsatz ("Wie schön leuchtet der Morgenstern", Strophe 6)
  5. Arie (Bass)
  6. Choraltrio mit zusätzlichem cantus firmus im Tenor ("Nun komm", Strophe 6)
  7. Arie (Sopran)
  8. Choralsatz ("Nun komm", letzte Strophe)

Im Zentrum steht der von Martin Luther 1524 aus dem lateinischen Hymnus "Veni redemptor gentium" gebildete Choral "Nun komm der Heiden Heiland". Dieser gilt bis heute als der vielleicht bekannteste Adventschoral. Auch Bach scheint ihn sehr geliebt zu haben. So existieren ausser den beiden Kantaten mit diesem Titel (BWV 61 und 62) auch vier Choralbearbeitungen für Orgel (BWV 599, 659-661) sowie etliche Choralsätze.

Im zweiten Kantatensatz (BWV 36, 2), einem wunderbar kontrapunktisch gearbeiteten Triosatz, der übrigens viele Ähnlichkeiten mit dem Leipziger Orgelchoral BWV 660 zeigt, benutzt Bach das aus der Anfangszeile des Chorals gebildete Motiv ritornellartig, nahezu wie einen ostinaten Bass. Die beiden von den Oboen d'amore verdoppelten Gesangsstimmen beginnen jede Zeile imitatorisch unter strenger Verwendung der cantus firmus -Töne. Darauf folgen freiere Figuren, die wie eine persönliche Ausgestaltung wirken. Besonders eindrücklich sind die seufzenden, bittenden Figuren "Nun komm", das grosse Melisma "alle Welt" und die staunend-hinweisenden Figuren "Gott solch Geburt".
Die ganze Kantate lebt in Text, Besetzung und Musik von der Polarität der freudig-lobenden und der sehnsüchtig-bittenden Heilandserwartung.

 

"Nun komm der Heiden Heiland"
Der Eingangssatz der Kantate BWV 62 (1. Advent 1724) lässt durch seine rhythmisch prägnante Struktur im 6/4-Takt aufhorchen: galoppierende Anapästfiguren begleitet von drängenden Tonwiederholungen und arpeggierenden, laufenden Geigenfiguren erzeugen eine starke, wenn auch zunächst noch unbestimmte Erwartung. Machtvoll in langen Notenwerten, aber ungewöhnlich im Dreiertakt und wie aus der Zeit gefallen ist der cantus firmus immer wieder herauszuhören in der Abfolge Continuo - Oboen - Sopran (verstärkt durch das Corno, welches im Usus der Bachzeit auch auf einem Cornetto gespielt werden konnte). Die unteren Vokalstimmen weben in ruhiger, motettenartiger Bewegung das imitatorische Geflecht der einzelnen Choralzeilen. Lange scheint sich dieser Eingangssatz auf drei unabhängigen Ebenen zu bewegen, bis in der dritten Zeile zu dem Text "alle Welt" fast alle Stimmen die laufenden 16tel-Figuren der Geige übernehmen. Das unfassbare Wunder der Geburt Jesu erfasst alle Welt.

Die folgenden Sätze in Bachs Kantate sind freie Umdichtungen der lutherschen Choralstrophen zu "Nun komm der Heiden Heiland". Die Tenorarie (2) kündet in weit gespannten Linien (40-tönige Koloratur, 21-taktiges Melisma!) von der Epiphanie (Erscheinung) des höchsten Beherrschers der Welt. Der Bass bittet in seiner Arie (4) vereint mit den unisono geführten Streichern den starken Held für uns zu streiten. Luther dichtete: "Führ hinaus den Sieg im Fleisch."

In den Rezitativen dieser Kantate (3 und 5) wird - Jesu Geburt vorausnehmend - das göttliche Licht besungen: "O heller Glanz, o wunderbarer Segensschein"- "Die Dunkelheit verstört uns nicht, und sahen dein unendlich Licht." Auch hier handelt es sich um Paraphrasen des Chorals, nämlich um die Strophe 7: Dein Krippen glänzt hell und klar / die Nacht gibt ein neu Licht dar. Dunkel muss nicht kommen drein / der Glaub bleibt immer im Schein.
Dies ist die tröstliche Zuversicht, die aus Bachs Kantaten spricht.

Jörg-Andreas Bötticher