Bachkantaten in der Predigerkirche
13. November  2005
 
BWV 26
Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
BWV 90
Es reißet euch ein schrecklich Ende
 
 

24. und 25. Sonntag nach Trinitatis

Die zum 24. und 25. Sonntag nach Trinitatis entstandenen Kantaten "Ach wie flüchtig" (BWV 26) und "Es reisset euch ein schrecklich Ende" (BWV 90) thematisieren die Vergänglichkeit menschlichen Lebens unter verschiedenen Blickwinkeln. Während die erste Kantate den bereits in Kor 1, 2 ausgesprochenen vanitas-Gedanken ausbreitet ("alles ist eitel"), zeigt die zweite Kantate in drastischer Weise die Konsequenzen eines sündhaften Lebens. Gott wird hier – vergleichbar der katholischen Tradition der im 13. Jahrhundert entstandenen Sequenz Dies irae – primär als Richter und Rächer dargestellt. Dies steht in einem deutlichen Kontrast zu einer Mehrzahl der Bachkantaten, in denen Bach bzw. sein Textdichter in lutherisch-einladender Art dem Hörer mehrere Chancen für einen Neubeginn bietet. Die starken, geradezu plakativen Texte dieser beiden Kantaten lassen eine ebenso plastische musikalische Umsetzung erwarten.

Ach wie flüchtig

Als Grundlage der Kantate "Ach wie flüchtig, ach wie nichtig" wählt Bach das gleichnamige, unter dem direkten Eindruck des 30-jährigen Krieges entstandene Lied von Michael Franck (1650). Dieser Choral könnte in seiner textlich-melodischen Kongruenz geradezu als Musterbeispiel barocker Musiksprache stehen, die immer eine innige Verbindung zwischen Wortaffekt und musikalischem Ausdruck sucht. Die Melodie besteht nur aus sechs Tönen eines Hexachords von a–f.  Diese sind angeordnet in zwei aufsteigenden halben, einer absteigenden und drei bogenförmigen ganzen Phrasen und stehen zweifellos für das Auf und Ab des Lebens. Die erste und letzte Textstrophe werden von Bach komplett übernommen (Satz 1 und 6), die übrigen 11 Strophen frei paraphrasiert. Bach dürfte schon früh mit diesem Choral und möglichen kirchenmusikalischen Bearbeitungen in Kontakt gekommen sein, sei es durch die Choralvariationen von Johann Pachelbel oder diejenigen seines Lüneburger Lehrmeisters Georg Böhm. Dessen siebenteilige Partita "Ach wie nichtig" verwendet in der vierten Variation sich verfolgende auf- und absteigende Tonleitern in 16teln. Diese im Grunde so simple wie naheliegende Idee ist auch in Bachs um 1714 für das Orgelbüchlein entstandenen Choralbearbeitung "Ach wie nichtig" (BWV 644) zu finden.

Im Eingangschor der am 19.11.1724 zum ersten Mal erklungenen Kantate hingegen geht Bach noch einen Schritt weiter und formt aus den dem Orchester zugewiesenen Tonleitern ein konzertantes Ritornell nach italienischer Art. Nach 16 Takten setzt der Chor im Stil einer Choralmotette ein, dabei wird der cantus firmus im Sopran von einem Corno verdoppelt. Rhythmisch überlagern sich nun drei Ebenen: Die Choralmelodie in halben Noten, die drei unteren Gesangsstimmen in Achteln und das Orchester in 16teln. Durch das Ineinanderverweben der Tonleitern und die Abspaltung von kürzeren Motiven entsteht ein flüchtiges, hörend kaum bewusst fassbares Treiben, vergleichbar den im Text erwähnten Nebelschleiern. Ob Bach (und Böhm) dabei auch vom Palindrom, dem Phänomen des in beide Richtungen lesbaren Wortes LEBEN inspiriert wurden?

Die folgende virtuose Arie für Tenor, Traverso, Violine und Continuo zeichnet das Sprudeln und Schiessen des Wassers nach. Dafür verwendet Bach ähnliche Tonleitermotive, zunächst in Viertongruppen kreisend, danach sich zu grösseren Kaskaden formend. Von einer vokalen Moderation instrumentaler Gesten kann hier  keine Rede sein, denn Bach verlangt von allen Beteiligten identische technische Höchstleistungen mit Septimsprüngen nach oben und unten sowie ausgedehnten (bis zu 42 tönigen!) Koloraturen. Eindrücklich ist der Moment im B-Teil der Arie, wo "sich die Tropfen plötzlich teilen": Bach gibt für sechs Takte die fliessende Wasserbewegung auf und stellt mittels grosser Sprünge die einzelnen Wassertropfen dar.

In starken Gegensatzpaaren beschreibt der Alt im anschliessenden Rezitativ den bevorstehenden Wandel von der Freude (überschäumende Koloratur) zur Traurigkeit (verminderter Septakkord), von der Schönheit (exclamatio) zur gefallenen Blume (Tiefpunkt) bis hin zur völligen Vernichtung durch das Grab (Kadenz in die Dominante der Grundtonart a-Moll).

Die zweite Arie für Bass und drei Oboen beginnt wie der Eingangssatz mit einem 16taktigen Instrumentalvorspiel und gibt sich als typische Bourrée. Zwei Gründe liessen sich als Erklärung für die Verwendung eines höfischen Suitensatzes in einer geistlichen Kantate anführen: Zum einen kann Bach damit das Sinnlich-Verführerische der "törichten Welt" darstellen, zum andern die vanitas fürstlich-luxuriösen Lebens anprangern. Die Interpretation dieses Satzes stellt die Musiker deshalb vor die Schwierigkeit, die Bourrée zunächst nur schmeichelhaft kokettierend und noch ohne moralischen Zeigefinger vorzutragen. Im B-Teil bricht Bach die Form plötzlich auf und stürzt den Hörer unter Verwendung der Tonleiterfiguren des ersten Satzes in die Tiefe. Im ausgeschriebenen Da Capo kehrt Bach zur anfänglichen Motivik zurück. Nun ist die Bourrée jedoch als verlogene Form entlarvt und offenbart durch den ostinaten Rhythmus ihren eindringlich mahnenden Charakter, den Alfred Dürr treffend als Totentanz beschrieben hat. Auf diesem Hintergrund kann diese Arie in ihrer Dreiteiligkeit als Paradebeispiel für den Prozess gelten, den ein Hörer bei einer barocken Da Capo-Arie erleben soll: Teil A stellt einen Hauptaffekt dar, Teil B ergänzt oder kontrastiert diesen; die Wiederholung des A-Teils erlaubt eine Vertiefung oder eine neue Sicht auf den ersten Affekt.

Auch das folgende Sopran-Rezitativ bringt keine Hoffnung: niemand ist aufgrund seines Standes vom Tode ausgenommen, niemand entgeht dem Vergessen. Einzig in den letzten zwei Takten des Schlusschorals drückt sich die gläubige Gewissheit aus: "Wer Gott fürcht, bleibt ewig stehen."

 

Es reisset euch ein schrecklich Ende

Ein Jahr zuvor, für den 14.11.1723 schrieb Bach die Kantate BWV 90.  Der unbekannte Textdichter nimmt Bezug auf das Evangelium aus Mt 24, 15–28 (Vom Kommen Christi). Erhalten ist die Originalpartitur J.S. Bachs, ohne autographe Stimmen und ohne Instrumentenangaben. Daraus erwachsen einige aufführungspraktische Fragen.

Bach beginnt die Kantate nicht mit einem Chorsatz, sondern mit motorisch vorwärtsdrängender einem Concerto für Solovioline und Streicher, das sich nach 24 Takten als Vorspiel zu einer Tenorarie entpuppt. Der Sänger übernimmt die Motivik der 1. Violine, die ihrerseits ihre solistischen Eskapaden gegen Ende der Sängerphrasen in wahrhaft reissende 32tel-Tiraten steigert. Eine ähnliche Disposition sehen wir bei Bach ein paar Jahre später in der Matthäuspassion in der verzweifelten Arie des Judas: "Gebt mir meinen Jesum wieder."

Spricht der Sänger der ersten Arie die Hörer noch in der Mehrzahl an, so versucht der Altist im darauffolgenden Rezitativ sich direkt an den Sünder zu wenden. und durch die Erinnerung an Gottes Güte und seine "ungezählte Wohltat" zur Umkehr zu führen. Häufig haben die Rezitative in Bachs Kantaten die Aufgabe, die Geschichte weiterzuerzählen oder die entscheidende Wendung vorzubereiten. Deshalb findet man auch meistens Modulationen in andere Tonarten. Bemerkenswerterweise beginnt dieses Rezitativ bereits in B-Dur, also in einer Terzverwandtschaft zur Tonart des Eingangssatzes (d-Moll). Das Rezitativ hätte alle Chancen, von hier aus neue tonartliche Wege zu gehen. Bach lässt den Satz aber wiederum in d-Moll enden und unterstreicht damit die offensichtliche Vergeblichkeit der Bemühungen, den Sünder auf den richtigen Weg zu bringen. In einem weiteren Versuch, erneut in B-Dur, wird schwereres Geschütz aufgefahren. Begleitet von seiner Entourage, dem Streicherchor und einer Trompete meldet sich der Bass als vox dei mit einer Battaglia zu Wort. Der Richter rächt sich und löscht den "Leuchter des Wortes" aus. Diese Aussage bezieht sich auf das ewige Licht im Tempel, das nie ausgelöscht werden durfte. Auch der Psalmist bezeichnet in Ps 119, 105 das Wort Gottes als "meines Fusses Leuchte". Im ersten Sendschreiben aus Offb 2, 5 wird damit gedroht, dass der Leuchter weggestossen wird, wenn die Gemeinde nicht Busse tue. Mit zornigen Daktylus-Figuren, einstimmig vom ganzen Orchester vorgetragen, braust in diesem Kantatensatz der Richter auf und entfaltet seine Rache in rasenden 32tel-Tiraten, die sich die Solotrompete und die erste Geige gegenseitig zuspielen. Das Stück erreicht eine erste Klimax nach abstürzenden Tonleiterfiguren, die durch das ganze Orchester laufen und in einer Fermate auf einem dissonanten Akkord abrupt zu einem Ende kommen. Schmerzhafter kann man das bewusste Auslöschen eines Leuchters kaum darstellen. Dieser Effekt wird noch ein zweites Mal wiederholt, wie um sicher zu sein, dass auch alle Kerzen ausgelöscht wurden. Diese Arie stellt in ihrer Virtuosität besondere Ansprüche an den Trompeter, der nicht nur einen Tonumfang von c1–c3 zu bewältigen hat, sondern mit der Geige in teilweise identischen Motiven wetteifern muss. (Anderthalb Jahr später wird Bach dieses Themas des Lichtes und des umgestossenen Leuchters noch einmal aufgreifen, und zwar in seiner Kantate BWV 6 "Ach bleib bei uns Herr Jesu Christ".)

Aufgrund der fehlenden Instrumental- und Gesangsstimmenbezeichnungen im Autograph könnte man annehmen, dass nun der Sopran als letzte Stimme im Quartett Trost und Hoffnung spenden könnte. Doch die originale Schlüsselung der Gesangsstimme in diesem vierten Satz, einem kurzen Rezitativ, legt es nahe, dass nochmal der Tenor zum Einsatz kommt: "Doch Gottes Auge sieht auf uns als Auserwählte". Nun stellt sich der Sänger, der noch im ersten Satz von aussen gewarnt hat ("es reisset euch ein schrecklich Ende") selbst in den Kreis der vom Feinde bedrängten Christenheit. Die Gefahr wird zur Chance, in dieser Situation den Wert und die Kraft des Wortes Gottes umso deutlicher zu erkennen. Im Schlusschoral erklingt die Melodie des Lutherliedes "Vater unser im Himmelreich". Nach dem grandiose Schrecken verbreitenden Endzeittheater öffnet Bach nun die Perspektive auf das Gebet hin. Allerdings wird kein Vers aus dem Vater-unser-Lied gesungen, sondern die 7. und letzte Strophe des Liedes "Nimm von uns, Herr, du treuer Gott" von Martin Moller (1584), das in seiner Gesamtheit die in dieser Kantate angesprochenen Themen zusammenfasst und um Gottes Segen und seine ewige Präsenz bittet.

Jörg-Andreas Bötticher