Bachkantaten in der Predigerkirche
9. Oktober 2005

 

Einführung


Das Königliche Abendmahl
Am 20. Sonntag nach Trinitatis wurde als Evangelium das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl gelesen (Matth. 22, 1–14). Jesus vergleicht das Himmelreich mit einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtet. Weil die Gäste auf die erste Einladung nicht kommen wollen, schickt er erneut seine Knechte aus, alle einzuladen, die sie auf den Strassen fänden. Die Tische wurden alle voll. Als der König hineinkam und einen Menschen fand, der kein hochzeitliches Kleid anhatte und der ihm auch nicht antwortete, warf er ihn hinaus in die Finsternis.

Der Text der Kantate 49, Ich geh und suche mit Verlangen, die Bach für den 3. November 1726 komponierte, nimmt nur auf einzelne Punkte dieser Bibellesung bezug: das Hochzeitsmahl, die fehlende Braut und das Hochzeitskleid. Bach oder der unbekannte Textdichter (Picander?) schöpfen aber aus der langen Tradition der christlichen Brautmystik.

Das Hohelied und die Brautmystik
"Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes": Der intime und sprachlich wunderbare Dialog von Sulamith und Salomo warf für die jüdischen Schriftgelehrten wie auch für die Kirchenväter eine entscheidende Frage auf: Konnten solche hocherotischen Äusserungen akzeptiert und kanonisiert werden? Um 90 n. Chr. wurde auf der Synode von Jamnia entschieden, dass dieser acht Kapitel umfassende Text allegorisch zu verstehen ist und das Verhältnis von Gott und seiner Kirche (Israel) versinnbildlicht. Trotzdem blieb die erotische Kraft dieses "irdischen Liebesliedes" (Bonhoeffer) ungebrochen. Im Mittelalter entstanden viele neue Kommentare zum Hohenlied. Am berühmtesten und für die christliche Mystik wegweisend wurden die Hoheliedpredigten des Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153). Unter Einbezug von anderen Texten des NT, welche die Hochzeitsthematik aufgreifen, entwickelte er eine regelrechte Brautmystik. Nun ist es nicht mehr die Kirche, die ihr Verhältnis zu Gott reflektiert, sondern die einzelne Seele als Braut in ihrem Verhältnis zu Christus, dem Bräutigam. Christus ist damit nicht mehr ein majestätisch thronender Herrscher, sondern wird zu einem erreichbaren Gegenüber. Bernhard schildert die Entwicklung dieses Kontaktes wie eine stufenweise Annäherung bis hin zur unio mystica, dem Einswerden mit Gott, der geistlichen oder heiligen Hochzeit.
J.S. Bach hat sich nachweislich viel mit diesem Gedankengut beschäftigt. In seiner theologischen Bibliothek finden sich neben den Werken Luthers auch etliche mystische Schriften, wie z.B. Johann Arndts Vom Wahren Christenthum (Leipzig 1709). Dort beschreibt der lutherische Theologe (1555–1621), wie die Vereinigung mit Christus durch geistige Ehe geschieht: "Wenn der Bräutigam kommt, so freuet sich die heilige Seele und gibt genaue und fleissige Achtung auf seine Gegenwart. Durch seine fröhliche, herzerquickende und heilige Ankunft vertreibt er die Finsternis und die Nacht, das Herz hat süsse Freude, es fliessen die Wasser der Andacht, die Seele schmelzt vor Liebe, der Geist freuet sich, die Affekten und Begierden werden inbrünstig, die Liebe wird entzündet [...] [Die Seele] freuet sich, dass sie den gefunden hat, welcher sie liebt, und dass er sie zur Braut auf- und angenommen [...] Oh, welch eine Liebe! Oh welch ein feuriges Verlangen! Oh, welch liebreiche Gespräche! Oh, wie ein keuscher Kuss!" So kann auch Bach die Seele in BWV 49 in mystischer Verzückung sprechen lassen: "Komm Schönster, lass dich küssen" und "Ich bin herrlich, ich bin schön". Dies steht aber nicht im Widerspruch zur Rechtfertigungslehre im lutherischen Sinn, denn im nächsten Satz verdeutlicht die Seele: "Mein Glaube hat mich selbst so angezogen".

BWV 49 als Liebesgespräch
Bach überschreibt seine Kantate mit Dialogus. Diese Form ist innerhalb seines Oeuvres durchaus kein Einzelfall (vgl. die Dialogkantaten und -arien BWV 58, 60, 140/6, 152) und steht in einer Reihe mit älteren geistlichen Dialogkompositionen beispielsweise von Schütz, Hammerschmidt oder Kaiser. Charakteristisch für den Hauptaffekt der ganzen Kantate sind die auftaktigen, aufstrebenden Bewegungen, die ein starkes Verlangen ausdrücken.
Die Sinfonia mit obligater Orgel (später bearbeitet als 3. Satz des Cembalokonzerts E-Dur) kann auch als Hochzeitsmusik (Menuett) aufgefasst werden. Durch die Verwendung von vielen chromatischen Halbtonschritten (im B-Teil der Sinfonia und in der ersten Arie) erhält man den Eindruck einer suchenden und bisweilen ziellos herumirrenden Bewegung. Auffallend ist ausserdem die Grundtonart E-Dur, die nach Johann Mattheson eine " verzweiflungs=volle oder gantz tödliche Traurigkeit unvergleichlich wol" ausdrückt; sie "ist vor extrem-verliebten Hülff= und Hoffnungslosen Sachen am bequemsten / und hat bey gewissen Umständen so was schneidendes / scheidendes / leidendes und durchdringendes / daß es mit nichts als einer fatalen Trennung Leibes und der Seelen verglichen werden mag." Wenn auch nicht behauptet werden kann, dass diese Charakteristik für die Sinfonia und den Schlusssatz vollends zutrifft, gibt sie zumindest einen hilfreichen Anhaltspunkt: Sie verdeutlicht die extreme Verliebtheit und gleichzeitig die Schwierigkeit, diesen Zustand der Vereinigung in diesem Leben zu erreichen bzw. darin verweilen zu können.
In Satz 4 preist die Braut ihre verführerische Schönheit. Ihr Hochzeitskleid wird aus den zarten Klängen und Melodien der exquisiten Instrumente Oboe d’amore und Violoncello piccolo gewoben. Dieses Instrument, ein kleineres meist 5-saitiges auf dem Arm zu spielendes Cello hat Bach in 16 Werken benutzt und immer solistisch (obligat) eingesetzt.
Hingewiesen sei auch auf die kunstvolle Verarbeitungstechnik der Melodien im letzten Satz: Als cantus firmus im Sopran verwendet Bach die 7. Strophe des Epiphaniasliedes Wie schön leuchtet der Morgenstern von Philipp Nicolai (1556–1608). Auch dieses Lied (1599) ist voller mystischer Bilder. Bach übernimmt die Melodie in verzierter Gestalt nicht nur in der dialogisierenden Stimme des Basses (Christus) sondern auch im obligaten Orgelpart. Taktweise erklingen hier die Choralnoten, umspielt von schmeichelnden Doppelschlägen. Der formale Aufbau mit dem alleine beginnenden und auch alleine schliessenden Bass, der gleichzeitigen Doppeltextigkeit von Sopran und Bass verklanglicht Bachs Glaubensgewissheit: Christus hat uns je und je geliebt, er ist der Erste und der Letzte, er wartet darauf, dass der Mensch sich ihm öffnet und er sein ‚Aufenthalt’ werden, d.h. er sich mit ihm vereinigen kann. Dieses gegenseitige Annähern, das Ineinandergreifen der göttlichen und menschlichen Bewegung, die Suche und das liebende Verlangen bis hin zur Vereinigung sind in dieser Kantate wunderbar gestaltet.

 

 

Schmücke dich, o liebe Seele (BWV 180)
Diese Kantate entstand zum 22. Oktober 1724 und verknüpft das Sonntagsevangelium mit der Einladung zum Abendmahl, analog zum Paralleltext bei Lukas, der von einem grossen Abendmahl spricht. Bach legt seiner Komposition Text und Melodie des Abendmahlliedes Schmücke dich, o liebe Seele von Johann Franck (1618–1677) zu Grunde. Allein schon durch die Grundtonart F-Dur herrscht hier eine völlig andere Stimmung als in der vorigen Kantate: mild, graziös, anmutig. Auch hier kommt uns Matthesons Tonartencharakteristik zu Hilfe: "F.dur [...] ist capable [in der Lage] die schönsten Sentiments [Gefühle] von der Welt zu exprimiren [auszudrücken], es sey nun Großmuth / Standhafftigkeit / Liebe / oder was sonst in dem Tugend=Register oben an stehet / und solches alles mit einer der massen natürlichen Art und unvergleichlichen Facilité [Leichtigkeit], daß gar kein Zwang dabey vonnöthen ist. Ja die Artigkeit und Adresse dieses Thons ist nicht besser zu beschreiben / als in Vergleichung mit einem hübschen Menschen / dem alles was er thut / es sey so gering es immer wolle / perfect gut anstehet / und der / wie die Frantzosen reden / bonne grace hat."

Eine hochzeitliche Tafelmusik
Mit Ausnahme der Rezitative und des Schlusschorals haben alle Sätze dieser Kantate Tanzcharakter (Gigue – Bourrée – Allemande? – Polonaise); so entsteht passend zum Evangeliumstext der Eindruck einer Tafelmusik. Eröffnet wird die Kantate von einer Bläsergruppe mit zwei Blockflöten, Oboe und Oboe da caccia in einem feierlichen, choralmässigen Satz in langen Notenwerten, dazu Streichermotive voll "glühendem und flüchtigen Eifer" (Mattheson). Anstelle des hübschen Menschen bei Mattheson steht hier die hübsche, sich schmückende Seele. Diese Vorstellung, eine Seele könne, ja müsse sich für die Begegnung mit dem Höchsten schmücken, ist uns heute fremd geworden. Wodurch soll sich der belastete Mensch denn schmücken, dass er würdig wird, die Einladung Christi anzunehmen? Ich kann ihm nichts bieten als meinen schwachen und furchtsamen Glauben (Satz 5). Gewiss wurde die im 18. Jahrhundert auch im Luthertum noch übliche und von Bach regelmässig benutzte Beichte als Reinigung der Psyche empfunden. Aber darüber hinaus wurde die ‚Seelenschmückung’ auch in der mystischen Literatur behandelt, so z.B. in Heinrich Müllers Himmlischer Liebeskuss, Frankfurt 1676 (ebenfalls in Bachs Bibliothek); er (1631–1675) widmet diesem Thema eine 60-seitige theologische Abhandlung. "Du liebe Seele, wilt du Gott gefallen, so bemühe dich mit allem Ernst, dass du in Christo geistlich schön werdest. [...] Der Glaube reiniget nicht allein das Hertz, sondern neigets auch zu Gott, dass es sein Bild empfange." Im lutherischen Verständnis sind es nicht die guten Werke, es ist einzig Jesu Liebe, die mir die Hoffnung schenkt, dass ich mich "durch Gott mit Gott vereine" (Satz 3). Der unbekannte Textdichter (J.S. Bach selbst?) übernimmt drei Strophen des franckschen Liedes. Dadurch entsteht die Form Choral – Arie – Choral – Arie – Choral. Die anderen Sätze sind inhaltlich sehr nahe am Choraltext. So lautet beispielsweise die zweite Strophe des Chorales: "Eile, wie Verlobte pflegen, deinem Bräutigam entgegen, der da mit dem Gnadenhammer klopft an deine Herzenskammer." Bach setzt dies plastisch um, indem er im zweiten Satz das Continuo wie auch die Solotraversflöte mit wiederholten Tönen und Anapästmotiven klopfen lässt (kurz – kurz – lang). Diese für Flöte enorm anspruchsvolle Bourrée, die nach Mattheson ein Gefühl von "Genugtuung und glücklichem Zauber" vermittelt, wurde – wie auch die Traversopartien in den 12 vorgängigen Kantaten dieses Jahres – vermutlich von Bachs Schüler Friedrich Gottlieb Wild (1700–1762) gespielt. Im folgenden Satz 3 wird die Kostbarkeit des Abendmahles im Unterschied zu den Schätzen dieser Welt und die Bedürftigkeit des Menschen nach dieser Seelenspeise dargestellt. Der Sopran singt die leicht verzierte Choralmelodie, begleitet von den inbrünstigen, beinahe pausenlosen melodischen Akkordbrechungen des Violoncello piccolos. Es folgt ein von zwei flauti dolci begleites Altrezitativ und eine Sopranarie in der Instrumentalbesetzung des Anfangssatzes. Kaum zufällig hat Bach für diese Liebesmusik Blockflöten gewählt, die gemäss Johann Christoph Weigel (1722) durch des "Klanges Süssigkeit" zur "Courtoisie bei Sternen voller Nacht" dienen. Das anschliessende Rezitativ paraphrasiert die 8. Strophe des Abendmahlliedes und führt in einem Arioso zurück zur Grundtonart F-Dur. Die oktavierenden Flöten geben dem vierstimmigen Schlusschoral (9. Strophe) einen himmlischen Glanz.

Gut möglich, dass Johann Sebastian Bach in der Vorbereitung auf dieses Sonntagsevangelium sich die entsprechenden Stellen in Müllers Liebeskuss oder Arndts Wahrem Christenthum noch einmal zu Gemüte geführt hat. Bei Müller findet sich just zum 20. Sonntag nach Trinitatis folgendes Gebet: "Für die Vermählung Christi mit unserer Seele. [...] Ach, meine Seele, vergiss der gantzen Welt, und wende dich gantz zu deinem Bräutigam: so wird er Lust an deiner Schöne haben. [...] Ach hilf , Herr Jesu, dass wir das erkennen, diese hohe Himmels-Gemählschaft und königliche ewige Vereinigung recht bedencken, und mit dir ewig verlobet, vermählet und vereiniget bleiben."

Jörg-Andreas Bötticher