Bachkantaten in der Predigerkirche
11 September  2005
 
 

Komm, du süsse Todesstunde (BWV 161)
Christus, der ist mein Leben (BWV 95)

Als Evangelium des 16. Sonntags nach Trinitatis wird die Geschichte von der Auferweckung des Jünglings zu Nain aus Lukas, 7, 11–17 verlesen. Es wird darin erzählt, wie Jesus aus Erbarmen mit einer Witwe deren einzigen Sohn, der eben zu Grabe getragen wird, ins Leben zurückruft. Es ist eine der drei im Neuen Testament berichteten Totenerweckungen, die sich nur im Lukasevangelium findet und die also zum lukanischen Sondergut gehört. Ausgehend von der darin bezeugten Macht Jesu über den Tod hat sich bei der Auslegung dieser Geschichte in der lutherischen Kirche die Tradition herausgebildet, von der Sehnsucht nach dem Tod als einem Zugang zum ewigen Leben und von der daraus resultierenden Abkehr von der Welt zu reden. Wort- und bilderreich findet so eine Umwertung aller Werte statt, und wie ein Motto steht über dem Sonntag die Aussage des Paulus aus dem Philipperbrief (1, 21 und 23): „Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn. Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein.“

 

BWV 161
Komm, du süße Todesstunde
Besetzung: Soli: [S] A T, Coro: S A T B, Flauto I/II [Traversa I/II], Violino I/II, Viola, Organo, Continuo
Erstaufführung: 6. Oktober 1715 27. September 1716
Text: Salomo Franck 1715; 6: Christoph Knoll 16111605
Anlass: Mariae Reinigung (2. Februar)16. Sonntag nach Trinitatis

Von der Hand Johann Sebastian Bachs haben sich insgesamt vier Kantaten auf den 16. Sonntag nach Trinitatis erhalten. Die früheste davon ist „Komm, du süsse Todesstunde“ (BWV 161), der ein Text des Weimarer Hofdichters Salomo Franck zu Grunde liegt. Diese Kantate stammt aus Bachs Weimarer Zeit, und sie wurde wahrscheinlich für den 26. September 1716 geschaffen. Ihre Wiederaufführung in überarbeiteter Form in Leipzig ist durch erhaltenes Stimmenmaterial bezeugt, wobei das Werk seiner Grundstimmung der Todessehnsucht wegen auch am Fest Mariä Reinigung im Zusammenhang mit Simeon als dem Urbild aller sterbebereiten Menschen Verwendung finden konnte. Salomo Franck war eine Generation älter als Bach. Trotz des grossen Altersunterschieds setzte aber der Jüngere den tief empfundenen Text des Älteren kongenial in Musik um, so dass nach Alfred Dürr eine Komposition „von unbeschreiblichem Reiz“ entstanden ist. Dazu tragen massgeblich die zwei als Soloinstrumente verwendeten Blockflöten bei, die flauti dolci, die mit sehnsuchtsvollen Motiven dem von Franck häufig benützten Wort „süss“ Ausdruck verleihen. Als „süss“ bezeichnet Franck die Todesstunde, die Lebensweide, die Himmelsfreude, wobei wohl das in der Altarie Nr. 1 verwendete Bild vom Honig spendenden Löwen einer Erklärung bedarf. Es stammt aus der in der christlichen Kunst oft verwendeten alttestamentlichen Erzählung vom starken Simson (Richter 14), der nur mit der Kraft seiner Hände einen Löwen tötete und später dann von dem Honig ass, den er im Leib des toten Tieres vorfand. Die Einzelheiten dieser Geschichte sind auf verschiedene Weise gedeutet worden. So wurde der Löwenbändiger Simson einerseits als alttestamentliches Vorbild für Christus angesehen, der bei seiner Auferstehung das Grab oder auch die Hölle geöffnet hat, so wie Simson den Rachen des Löwen aufgerissen hat. In anderer Deutung ist aber Christus selbst der von Simson erschlagene Löwe, bei dem die Seele den Honig des ewigen Lebens findet. Vielleicht darf die Verwendung der Geschichte bei Franck in diesem Sinn verstanden werden. 1) Die von der Sprache des Hoheliedes geprägte intensive Sehnsucht nach der Vereinigung mit Christus – „dass ich meinen Jesum küsse“ – wird durch die in der Weimarer Fassung textlos von der Orgel gespielte Choralmelodie „Herzlich tut mich verlangen nach einem selgen End“ unterstrichen. 2) Es ist jene Melodie, die uns heute vor allem im Zusammenhang mit Paul Gerhardts Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“ vertraut ist.

Im darauf folgenden Seccorezitativ Nr. 2 für Tenor („Welt! deine Lust ist Last!“) ist von der Umwertung aller irdischen Werte die Rede. Die weltliche Lust wird Last, der Zucker wird zu Gift, das Freudenlicht zu einem Unheil verheissenden Kometen, die Rosen sind voller Dornen, während umgekehrt der blasse Tod der Morgenröte zu vergleichen ist, die den Aufgang der herrlichen Sonne verspricht. Gross ist daher die Lust, abzuscheiden und bei Christus zu sein, was arios gesungen und mit einer wunderbaren Streichbasskantilene umspielt wird. Die Tenorarie Nr. 3 („Mein Verlangen ist, den Heiland zu empfangen“), die von den Streichern begleitet wird, bleibt dem Verlangen nach der Vereinigung mit Christus verhaftet. Dabei wird in ihrem Mittelteil thematisiert, wie man sich damals den Sterbevorgang vorgestellt hat, dass nämlich der tote Leib des Menschen in der Erde begraben wird und verwest, während die Seele direkt in den Himmel gelangt, um dort oben gleich den Engeln zu prangen. Bach hat diese Aufteilung durch die Hervorhebung der beiden Worte „zermalmen“ und „prangen“ deutlich zum Ausdruck gebracht. Die Auferweckung des Leibes und seine Wiedervereinigung mit der Seele wird dann am jüngsten Tag stattfinden, und um diesen Gedanken kreisen nun alle folgenden Kantatensätze. Mit immer neuen Formulierungen  bieten sie dem Komponisten vielerlei  Möglichkeiten zur Vertonung an. So hebt Bach im ausinstrumentierten Altrezitativ Nr. 4, „Der Schluss ist schon gemacht, Welt, gute Nacht!“, in dem auch die Blockflöten wieder mitspielen, die wichtigen Aussagen vom sanften Todesschlaf, von der Auferweckung, von der süssen Lebensweide arios hervor, und am Schluss lässt er den „letzten Stundenschlag“ durch die Flöten nachahmen. Der Satz Nr. 5 („Wenn es meines Gottes Wille“), von Franck als Arie vorgesehen, von Bach aber für einen Chor vierstimmig gesetzt, ist liedhaft homophon, in seinem Verlauf aber von sich steigernder Intensität. Er hat kein Da capo, so dass die Aussage „Dieses sei mein letztes Wort“ wirklich am Schluss steht. Gewiss nicht zufällig greifen die beiden Blockflöten dabei die Motivik des Satzes 1 wieder auf. Beendet wird die Kantate mit der vierten Strophe („Der Leib zwar in der Erden“) des in der Eingangsarie verwendeten Chorals „Herzlich tut mich verlangen“. Er ist durch eine instrumentale Oberstimme zur Fünfstimmigkeit erweitert, was immer, wenn Bach zu diesem Mittel greift, dem Satz einen eigenen Glanz verleiht. Besonders eindrücklich ist hier, dass die Flöten am Schluss erst nach einem Vorhalt in den Grundakkord einstimmen, dadurch vielleicht das Fragezeichen des Textes „Was schadt mir dann der Tod?“ erst hervor- und dann aufhebend?        

 

BWV 95
Christus, der ist mein Leben
Besetzung: Soli: S T B, Coro: S A T B, Corno, Hautbois I/II, Hautbois d'amour I/II, Violino I/II, Viola, Continuo
Erstaufführung: 12. September 1723
Text: unbekannter Dichter; 1: Martin Luther 1524; 3: Valerius Herberger 1613; 7: Nikolaus Herman 1560
Anlass: 16. Sonntag nach Trinitatis

Die Kantate „Christus, der ist mein Leben“ (BWV 95) ist jüngeren Datums als BWV 161. Sie wurde am 12. September 1723 in Bachs erstem Leipziger Amtsjahr erstmals aufgeführt. Ihr Text stammt von einem unbekannten Verfasser, der über eine reiche Bibel- und Kirchenliedkenntnis verfügt hat. So klingen Bibelstellen in den frei gedichteten Teilen überall an, und mit Strophen aus vier verschiedenen Sterbeliedern ist ein gestalterisches Element eingesetzt, das diesem Werk einen speziellen Charakter verleiht. Inhaltlich geht es zwar um die gleichen Themen wie bei Franck, doch werden diese im Verlauf der Kantate bei allen Überschneidungen eher schwerpunktartig behandelt. So folgt auf die Bereitschaft zum freudigen Dahinfahren (Satz 1, dreiteilig) und auf die Abschiedsworte an die Welt (Satz 2 und 3) der Wunsch, dieser Abschied möchte heute noch geschehen (Satz 4 und 5), während am Schluss die alles begründende Gewissheit der Auferstehung steht (Satz 6 und 7). Die Kantate beginnt mit einem dreiteiligen Satz, in dem ein Tenorrezitativ von zwei Choralbearbeitungen umrahmt wird. „Christus, der ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn“, singt der Chor zeilenweise homophon in einen dank seiner Synkopen durchaus beschwingten Orchesterpart hinein, wobei das Wort „Sterben“ – wohl nach alter Leipziger Tradition 3) – durch breitere Notenwerte, den sukzessiven Einstieg in einen dissonanten Akkord sowie eine Fermate dreifach musikalisch unterstrichen wird. Attacca setzt nach dem Abschluss des Chorals der Tenor ein: „Mit Freuden, ja mit Herzenslust will ich von hinnen scheiden“, den Text im Wechsel von Rezitativ und Arioso vortragend, worauf der Chor das vom Tenor erwähnte „Sterbelied“ singt. Es ist Simeons Lobgesang „Nunc dimittis“ in Luthers Übertragung „Mit Fried und Freud ich fahr dahin“, das als das Urbild aller Sterbelieder bezeichnet werden kann. Zeile um Zeile wird die Melodie vom Horn und von den Oboen vorimitiert, und ausserdem wird durch die Violinen dem vierstimmigen Chor eine fünfte Stimme hinzugefügt. Auch bei dieser Choralbearbeitung werden einzelne Textaussagen besonders hervorgehoben, so vor allem das „sanft und stille“ durch ein Anhalten des durchlaufenden Generalbasses und eine Fermate.

Es folgt in den Sätzen Nr. 2 und 3 die Absage an die Welt, deren Falschheit darin besteht, dass alle ihre Freuden versalzen sind wie damals für Israel an Babels Flüssen (Psalm 137), und alle ihre Schönheit nur äusserlich ist wie bei den Sodomsäpfeln, die innen voll Staub sind. Die Schilderung dieser argen Welt und die Absage an sie wird in einem Seccorezitativ („Nun, falsche Welt!“) und in einem als Trio vertonten, geradezu fröhlichen Choralsatz vom Sopran „mit gelassnerm Mute“ vorgetragen. Begleitet von den später einsetzenden Oboen d’amore erklingt die Melodie des Liedes „Valet will ich dir geben“ unverziert über einem quasi ostinaten Generalbass. In den Sätzen 4 und 5, einem Rezitativ („Ach könnte mir doch bald so wohl geschehen“) und einer Arie, wird vom Tenor der schon zu Beginn der Kantate geäusserte Wunsch aufgenommen, der längst erseufzte Sterbenstag, die „selge Stunde“ möchte doch bald da sein, der allerletzte Glockenschlag schon heute ertönen. Wie immer, wenn in den Texten von Glocken die Rede ist, wird Bach dazu angeregt, deren Klang musikalisch umzusetzen. Dieses Stilmittel prägte bereits den Schluss des Satzes 4 der Kantate BWV 161, und Ähnliches geschieht nun auch in der Tenorarie „Ach, schlage doch bald, selge Stunde, den allerletzten Glockenschlag“, wobei durch die gezupften Streicher über einem fast nicht mehr vorhandenen Continuofundament vielleicht auch das Ticken der Uhr abgebildet ist. „Herrlich“ nennt Albert Schweitzer jedenfalls diese Arie und „ergreifende Schönheit“ schreibt Alfred Dürr ihr zu.

Im letzten Teil der Kantate steht schliesslich der gewisse Glaube an die Auferstehung des Leibes im Mittelpunkt. Es ist die Bassstimme, die dieser Gewissheit im Seccorezitativ Nr. 6, „Denn ich weiss dies und glaub es ganz gewiss“, Ausdruck verleiht. Das Rezitativ ist ein wunderbares Beispiel für Bachs Kunst der adäquaten Textvertonung. Beim Tod als Schlaf geht es in die Tiefe, beim Zugang zum Vater und beim seligen Auferstehen in die Höhe, und am Schluss wird das Wort „auf meinen Heiland gründen“ arios gesungen und von einer durchgehenden Basslinie begleitet. Auch im Schlusschoral der Kantate („Weil du vom Tod erstanden bist“) lässt sich Bach vom Text anregen. So steigen die Violinen, die auch diesen Satz zur Fünfstimmigkeit erweitern, bei allen Aussagen, die von der Auferstehung und vom Himmel reden, in höchste Höhen. Es bleibt schliesslich noch zu fragen, was mit dem „letzten Wort“ in der dritten Choralzeile gemeint sein könnte: „Dein letztes Wort mein Auffahrt ist, Todsfurcht kannst du vertreiben“. Letzte Worte sterbender Menschen waren für die Überlebenden wichtig –  auch bei Franck war im Libretto der Kantate BWV 161 von einem solchen die Rede. Diese Worte wurden weitergegeben und häufig auch gedruckt. Mit dem letzten der sieben Worte Jesu am Kreuz ist dasjenige aus dem Lukasevangelium gemeint: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Und so hofft der Liederdichter Nikolaus Hermann – wie viele andere Menschen auch – auf Grund dieses Wortes auf seine eigene Auferweckung aus dem Grab. Bei Paul Gerhardt hat dieser Gedanke folgende Formulierung gefunden:

Ach lass, mein Hort
Dein letztes Wort
Mein letztes Wort auch werden!
So werd ich schön
Und selig gehn
Zum Vater von der Erden.     
                                 

Helene Werthemann


1) Siehe dazu die Überlegungen bei Werthemann 1960, S. 122 und Menzel 1854, II. Theil, S. 37. Ein Bezug dieses Bildes zur Eucharistie wird hergestellt bereits bei Jacobus Boschius, Symbolographia sive De Arte Symbolica Sermones Septem, 1702 Augsburg und Dillingen.

2) Zu den Veränderungen der Leipziger Fassung gegenüber der Weimarer Version gehört neben der Verstärkung der Blockflöten durch Violinen die Übertragung der Choralmelodie in Satz 1 von der Orgel an einen Sopran.

3) Alfred Dürr beruft sich dahingehend auf eine Johann Hermann Schein zugeschriebene Singpraxis (Dürr 1995). In der von Bachs Amtsvorvorgänger Johann Schelle komponierten Choralkantate „Christus der ist mein Leben“ findet sich Vergleichbares hingegen nicht.