Bachkantaten in der Predigerkirche
14. August  2005
 
BWV 35
Geist und Seele sind verwirret
BWV 199
Mein Herze schwimmt im Blut
 
 

Die Texte dieser beiden  Solo-Kantaten stammen von Georg Christian Lehms (geb. 1684 im schlesischen Liegnitz, gest. 1717 in Darmstadt). Lehms, seit 1710 bis zu seinem frühen Tod Hofpoet und Hofbibliothekar am Darmstädter Hof, war als Literat in verschiedenen Sparten und Gattungen tätig. Berühmt wurde er durch sein Lexikon „Teutschlands Galante Poetinnen/ Mit sinnreichen und netten Proben. ... Dass das Weibliche Geschlecht so geschickt zum Studieren/ als das Männliche.“ (Frankfurt am Mayn 1745). Seiner Sammlung von Kantaten-Texten „Gottgefälliges Kirchen-Opffer“ (1711) hat Bach insgesamt zehn Textvorlagen entnommen, darunter diese beiden. Sie zeigen Lehms als gewandten und einfallsreichen Barock-Poeten, der seine Texte jeweils auf ein zentrales Thema bezog und sprachlich variationsreich, ja raffiniert gestaltete, was Bach offensichtlich zu abwechslungsreichen musikalischen Umsetzungen inspirierte.

BWV 35
„Geist und Seele sind verwirret“

Dem Text dieser Kantate liegt der Bericht von Jesu Wunderheilung eines Taubstummen aus dem Evangelium nach Markus (Mk 7, 31-37) zugrunde. Das hebräische Wort „Hephata!“, das unvermittelt im Rezitativ des zweiten Teils auftaucht, was „Tu dich auf!“ heisst, spricht Jesus dort zu dem Taubstummen : „Und alsbald taten sich seine Ohren auf , und das Band seiner Zunge ward los, und er redete recht.“ Dieses Rezitativ greift auch mit „Zungenband“ den biblischen Ausdruck auf. Die Reaktion der Umstehenden auf dieses Wunder, „Er hat alles wohl gemacht ; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend“(V. 37), eröffnet und beschliesst, leicht abgewandelt zu „Gott hat alles wohlgemacht“, die Aria am Ende des ersten Teils.

Lehms` Text ist einerseits als geistliche Ausdeutung, andrerseits als sprachliche Variationen des biblischen Heilungswunders am Taubstummen gestaltet. Er nimmt Einzelnes daraus auf, umspielt es und stellt es in neue Zusammenhänge. Am offensichtlichsten geschieht das gleich zu Beginn mit dem Wort „Wunder“. Nachdem dieses in der eröffnenden Aria eingeführt worden ist („denn die Wunder, so sie kennet“), kann sich der Text des nachfolgenden Rezitativs mit Variationen davon kaum genug tun: „ich wunder mich“, “Verwundrung“, „Wunderwerk“, „wunderreich“, „Wunderding“, „Wunderwerke“. Das singende Ich hebt sie jeweils besonders hervor und benutzt diese Reihung, um schließlich Jesus, den „Gottessohn“, zu preisen; er sei selber ein „Wunderding“ und vollbringe „Wunderwerke“. Im Rezitativ des zweiten Teils  bittet das Ich Gott indirekt, an ihm ebenfalls ein solches Heilungswunder zu vollbringen.

Vorausgesetzt ist dabei, dass in der Eröffnungsarie die Gehörlosigkeit des Taubstummen aus dem Evangelium auf das Ich umgedeutet wird. Sie ist jedoch nicht als physisches Gebrechen verstanden.  „taub und stumm“, bzw. „verwirret“  sind „Geist und Seele“ dieses singenden  Ich, im Unterschied zum Jauchzen des Volks aus Staunen  über Gottes  Wunder.

Es macht das kompositorische  Raffinement dieser Kantate aus, dass damit die eröffnende Sinfonia  rückwirkend  in die Reflexion des Ich einbezogen wird, und zwar als klanggewordene göttliche Wunderwelt. Diese wird in erster Linie durch die atemberaubende Virtuosität der Orgel hörbar gemacht, der die übrigen Instrumente immer wieder unterstützend beispringen. Dass die Singstimme daran noch nicht beteiligt ist, bekommt damit den Sinn, das Ich als „taub und stumm“ einzuführen, was dieses ja dann in der nachfolgenden Aria ausdrücklich bestätigt. Anders gesagt: die Sinfonia am Anfang ist bereits Teil des Geschehens. Sie bildet den Erlebnisraum des darüber verstummten Ich ab, über den dieses in der anschliessenden Aria nachdenkt.

Das im Ersten Teil der Kantate zunächst allgemein Dargelegte wendet das singende Ich im Zweiten Teil, in einer sog. „applicatio“, auf sich selber an. Es bittet Gott um Heilung von seinem eigenen Taubstumm-Sein. Dieses wird zunächst ebenfalls geistlich, als „verstocktes Herz“, verstanden. Dann aber wird die Bitte ganz konkret. Im Rückgriff darauf, dass es im Evangelienbericht ja um die Heilung eines physisch Taubstummen geht, bittet das Ich um die Heilung von Ohr und Zunge, nun verstanden als Fähigkeit, Gott singend zu preisen, wie es der Alt ja gerade im Begriffe ist zu tun. Überraschend wird damit sein aktuelles Singen selber zum Thema. Dieses wird als hörbares göttliches Wunder gedeutet. Die eingetretene  Heilung von der Verstocktheit als geistiger Art, taubstumm zu sein, bezeugt sich somit darin, dass das Ich diese Abschluss-Arie so virtuos singen kann. Das beweist, dass seine vorangegangene Bitte in Erfüllung gegangen ist und es nunmehr weder im konkreten noch im übertragenen Sinn taubstumm ist, wenn es darum bittet, möglichst bald mit allen Engeln „ein fröhliches Halleluja“ singen zu können.

Bachs Vertonung gibt in dieser Kantate der obligaten Orgel die Hauptrolle. Ihr virtuoser, oft solistischer Einsatz verbreitet die ganze Kantate hindurch eine Stimmung feierlich-heiterer Zuversicht, auch wenn der Melodiefluss an einzelnen Stellen in Umsetzung des Textes gestört wird, wie z. B. gleich zu Beginn der ersten Arie, wo die Verwirrung im Stocken nach den Worten „Geist und Seele“ hörbar ist, oder auch in der Schlusszeile, in der kurzen Pause zwischen „taub“ und „stumm“. Im ersten Rezitativ legt auch die Vertonung die Akzente auf die verschiedenen Komposita von „Wunder“. Die den ersten Teil abschliessende Arie setzt die Glaubenszuversicht in eine munter fliessende  Weise um.

Die Worte der den zweiten Teil abschliessenden Arie äussern ungeduldig den Wunsch, nach diesem Leben „Ein fröhliches Halleluja / Mit allen Engeln anzuheben“, also zu singen. Bachs Komposition stellt diese erhoffte Zukunft als gegenwärtig und damit den Wunsch als bereits erfüllt dar. Ihr lebhafter Dreivierteltakt gibt dem erwünschten Jenseits bereits im Akt des Singens, Spielens und Hörens diesseitige Gestalt. Im „fröhlichen Halleluja“ dieses Schlusses erscheinen aber vor allem die physische und die geistliche Gehörlosigkeit gleichermassen geheilt. Dass die Kantate mit dem Wort „enden“ endet, zeigt ein letztes Mal, wie sprachbewusst Lehms zu Werke gegangen ist.

 

BWV 199 
„Mein Herze schwimmt im Blut“

In der protestantischen Frömmigkeit der Bach-Zeit und in den theologischen Diskussionen in ihrem Umkreis hatte der Vorgang der „Bekehrung“ zentrale Bedeutung. Er wurde verstanden als körperlich und geistig erlebter „Durchbruch“ des Einzelnen aus Zweifeln und Gottferne zum Glauben, vom Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit in den Gnadenstand. Wegweisend wurde dabei, dass August Herrmann Francke (1663-1727), der spätere Begründer des Halleschen Pietismus, im Oktober 1687 eine solche Bekehrung erlebt und diesen „Durchbruch“ in seinem „Lebensbericht“ öffentlich gemacht hatte: “Denn wie man eine Hand umwendet, so war all mein Zweifel hinweg, ich war versichert in meinem Hertzen der Gnade Gottes in Christo Jesu, ich kunte Gott nicht allein Gott, sondern meinen Vater nennen, alle Traurigkeit und unruhe des Herttzens ward auff einmal weggenommen, hingegen ward ich als mit einem Strom der Freuden plötzlich überschüttet, dass ich aus vollem Muth Gott lobete und preisete, der mir solch grosse Gnade erzeiget hatte. Ich stand anders gesinnet wieder auff, als ich mich niedergelegt hatte. Denn mit grossem Kummer und zweiffel hatte ich meine Knie gebogen, aber mit unaussprechlicher Freude und grosser Gewissheit stand ich wieder auff.“   In der Folge wurde es für die Zugehörigkeit zu den pietistischen  „ecclesiolae in ecclesia“ (den kleinen Kirchen in der grossen) zur entscheidenden Voraussetzung, eine solche Bekehrung durchlebt zu haben und bezeugen zu können.

Der Textdichter Georg Christian Lehms hat für die Kantate BWV 199 den Bekehrungsvorgang zum Modell genommen. Dabei hat er das die Betroffenen nicht zuletzt durch seine Plötzlichkeit erschütternde Erlebnis in eine Abfolge einzelner Gemütszustände gegliedert und sprachlich jeden davon besonders ausgestaltet. Bach folgt ihm darin genau. Er zeichnet die einzelnen Schritte des Bekehrungsvorgangs in seiner Musik höchst differenziert nach und macht sie so für die Zuhörenden mitvollziehbar. Konsequenterweise ist auch diese Kantate eine Solokantate, ohne Chor und auch ohne Vor- und Nachspiel; es geht darin einzig um die Darstellung eines individuellen, geistig-seelisch und zugleich körperlich durchlebten Geschehens.

„Mein Herze“ – mit diesem Eröffnungswort, das im weiteren noch sieben Mal wiederkehrt und als „sein (Gottes) Herz“ auch den Abschluss bildet, wird der Schauplatz der Bekehrungsvorganges genannt: das Herz, verstanden als fühlendes und denkendes Zentrum der Person. Im Eingangsrezitativ befindet sich das Ich im Zustand der totalen Zerknirschung angesichts seiner Sünden. Ohne „Trost“ beklagt es diese, für die es einen doppelten Ursprung angibt: den „Adamssamen“, also die Erbsünde, und eine nicht weiter spezifizierte „verhasste Lasternacht“ – übrigens beides monotone Reihen von a-Vokalen. Beides bewirkt, dass sich das Ich wie Adam und Eva im Paradies (Gen. 3, 8) verzweifelt vor Gott zu verstecken sucht - Inbegriff der Gottferne. – In den auf diese Zerknirschung folgenden „Aria e Recitativo“, deren betrübt-getragenen Ton die begleitende Solo-Oboe besonders anrührend ausgestaltet, erhebt das „sündlich Herz“ bewegte Klage über seinen Zustand der Verlorenheit. Deren Intensität rührt auch daher, dass es singend, damit leicht paradox, betont, nicht sprechen zu können, „weil der Mund geschlossen ist“, und die Tränen ihm als einziges Ausdrucksmittel seines Elends übrig blieben. Tränen sind seit alters körperliche Symptome seelischer Trostlosigkeit, die aber immer auch schon den positiven Umschwung daraus zur Freude ankündigen.  Auf diese Klage folgt im anschliessenden Rezitativ die Reue. Sie wird in feierlichem Tone formuliert mit der Bitte des Zöllners aus Lukas 18, 13 „Gott sei mir Sünder gnädig“. (Dem Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner galt die Evangelienlesung am elften Sonntag nach Trinitatis, als diese Kantate aufgeführt wurde.) - Darauf wird die göttliche Verzeihung registriert: “Ach ja! Sein Herze bricht“,  gemeint ist das Herz Gottes. Fast scheint es, als würde auch Gott die Entfernung und Entfremdung dieser Seele von ihm nicht länger aushalten. - Dass Gott nun heilend auf das Ich einzuwirken beginnt, wird in dessen nachfolgendem Schuldbekenntnis,“Tief gebückt und voller Reue“, einer lebhafteren Aria, hörbar. Deren Bewegtheit deutet schon die beginnende seelische Entlastung und Veränderung an. Sie mündet in das Schuldbekenntnis und die inständige, durch Wiederholungen und Verlangsamung des Tempos rührend intensivierte Bitte: „Habe doch Geduld mit mir!“ Mit dieser flehentlichen Bitte erreicht das dargestellte seelische Geschehen seinen Tief – und Wendepunkt. - Der göttliche Trost, der traditionellerweise beim Bekehrungsvorgang im Ich unmittelbar auf die „Schmerzensreu“ antwortet, zeigt sich hier so, dass dem Ich eine Strophe aus dem Choral „Wo soll ich fliehen hin“ von Johann Heermann (1585-1647), „beifällt“, einem protestantischen Liederdichter einer  vorangegangenen Generation: „Ich dein betrübtes Kind ...“ Der Choral, sonst obligater Schlussteil jeder Bachkantate, ist hier also eingebaut und verwendet als Entscheidungsphase des Bekehrungsvorgangs. Dass das Ich ihn sich singend zu eigen macht,  gewissermassen als göttliches „Trostwort“, signalisiert den Umschwung aus der Gottferne in die neuerliche Annäherung an Gott, und zwar dank Christus; denn unvermittelt ist in der Choralstrophe der leidende Christus angesprochen. Mit der Nennung von Christi Wunden und der Art und Weise, wie das Ich im anschliessenden Rezitativ diese als seine „Ruhstatt“ ausdeutet, kommt eine Lieblingsvorstellung Johann Heermanns zur Sprache, die in ihrer körperlichen Konkretheit bereits auf Christian Ludwig von Zinzendorf und den Blut- und Wundenkult der Herrenhuter Brüdergemeinde vorausweist: „Ich lege mich in diese Wunden/ als in den rechten Felsenstein./ Die sollen meine Ruhstatt sein.“ In den Worten „vergnügt und fröhlich“ am Schluss des Rezitativs kündigt sich an, dass der Bekehrungsvorgang den Gegenpol zur Zerknirschung des Kantaten-Anfang erreicht hat und damit an sein Ziel gelangt ist. In der nachfolgenden Schluss-Aria, einer lebhaften Gigue, kommen Erleichterung und Freude des Ich über seine  erlangte Versöhnung mit Gott unmittelbar zum Klingen: der Bekehrungsvorgang, den diese Kantate textlich und musikalisch durchlaufen hat,  ist in dieser erlösten Freude und „Seligkeit“ hörbar an seinem Ziel.

Es ist heute kaum mehr auszumachen, ob zu Bachs Zeit mit dieser Kantate, die den Bekehrungsvorgang einer Einzelseeele in seinen Etappen so detailliert textlich und musikalisch vergegenwärtigt, ein geistlicher Mitvollzug des Gesungenen durch die Zuhörenden, im Sinne eines eigenen Bekehrungserlebnisses resp. von dessen Wiederholung, beabsichtigt war, oder ob damals bereits wie heute die ästhetische Freude an der dichterisch besonders differenziert und konsequent gestalteten Bekehrungsthematik und an der abwechslungsreichen, eingängigen musikalischen Umsetzung der einzelnen Bekehrungsschritte überwog. - Bach selbst scheint diese Kantate besonders geschätzt zu haben; er brachte sie mehrfach zur Wiederaufführung.

Karl Pestalozzi