Bachkantaten in der Predigerkirche
12. Juni  2005
 
 

BWV 21
Ich hatte viel Bekümmernis

Im achten Teil seiner 1725 gedruckten Critica Musica – genauer: im Kapitel „De Repetitione Textus“ zieht der Hamburger Musikpapst Johann Mattheson (1681-1764) recht ungeniert über die vielfachen musikalisch ausgeführten Wortwiederholungen in Bachs Motette Ich hatte viel Bekümmernis her. Es heißt dort:

Ein sonst braver Practicus hodiernus, der repetirt nicht für die lange Weile also: Ich, ich, ich, ich hatte viel Bekümmerniß, ich hatte viel Bekümmerniß, in meinem Herzen, in meinem Herzen. Ich hatte viel Bemümmerniß :I: in meinem Herzen :I: :I: I Ich hatte viel Bekümmerniß :I: in meinem Herzen :I: :I: :I: :I: Hernachmahl so: Seufzer, Thränen, Kummer Noth (Pause) Seufzer, Thränen, ängstlich Sehnen, Furcht und Tod (Pause) nagen mein beklemmtes Herz etc. it. Komm, mein Jesu,  und erquicke (Pause) und erfreu mit deinem Blicke (Pause) komm, mein Jesu (Pause) komm, mein Jesu, und erquicke, und erfreu … mit deinem Blicke diese Seele etc.

Dieses Zeugnis ist nicht nur von kulturhistorischem Interesse, sondern es gibt uns auch einen Anhaltspunkt, wann und wo Bach sein großes Werk prominent zum Klingen gebracht haben dürfte: im November 1720 in Hamburg. Damals gab Bach sein im Nachruf ausführlich besprochenes zweistündiges Konzert an der Orgel der Hamburger Katharinenkirche, in dem er „auf Verlangen der Anwesenden, aus dem Stegreife, sehr weitläufig, fast eine halbe Stunde lang, auf verschiedene Art“ über den Kirchenchoral „An Wasserflüssen Babylons“ improvisierte. Das brachte ihm das Kompliment des 97jährigen Adam Reinken ein, er, Reinken, habe gemeint, „diese Kunst wäre gestorben; ich sehe aber, daß sie in Ihnen noch lebet.” Im Übrigen hat Bach die anwesenden “Magistrate und viele andere Vornehme der Stadt” nicht nur durch seine Orgelimprovisationen in Erstaunen versetzt, sondern er hat aller Wahrscheinlichkeit nach im vorhergegangenen Gottesdienst auch sein nachmaliges op. 21 aufgeführt und bei dieser Gelegenheit Mattheson unter seinen Zuhörern gehabt. Denn wie anders hätte dieser die so detaillierten Kenntnisse von der Kantate erworben haben können, die er fünf Jahre später gedruckt dem Kreis der Musik-Kenner und -Liebhaber zum Besten gab?

Die Entstehungsgeschichte des Werkes ist ungewiss. Ein handschriftlicher Hinweis Bachs in einer der Stimmen belegt immerhin, dass Bach die Kantate am 3. Sonntag nach Trinitatis 1714 in Köthen aufgeführt hat, und am 13. Juni 1723, dem 3. Sonntag nach Trinitatis, erklang sie in Leipzig. In der Bachforschung hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass sie in einer verlorenen ursprünglichen Fassung bereits für die Weimarer „Himmelsburg“, die 20 Meter in die Höhe strebende Schlosskirche, geschrieben worden und damit in die Jahre zwischen 1713 und 1717 zu datieren ist. Für diese chronologische Einordnung ist vor allem die Textvorlage maßgeblich, die mit ihrem häufig verwendeten Bibelwort und den beiden Zwiegesprächen zwischen Jesus und der Seele an den Stil des Weimarer Hofdichters Salomo Franck (1659-1725) erinnert, mit dem Bach in seiner Zeit als dortiger Konzertmeister vielfach zusammenarbeitete. Bis das Werk seine umfängliche, zweiteilige Leipziger Gestalt erhielt, dürfte Bach zahlreiche Umarbeitungen und Erweiterungen vorgenommen haben. Die in der Endfassung gegebene Satzesfülle könnte auch die Ursache dafür sein, dass das Werk, wie es auf dem Umschlag der erhaltenen Stimmen heißt, „per ogni tempore“ gedacht ist, also nicht für einen bestimmten Sonntag vorgesehen ist, sondern im gesamten  Kirchenjahr aufgeführt werden kann.

Inhaltlich handeln die Texte von der Einsamkeit und Seelennot des christlichen Ich, das sich von Gott verlassen glaubt und von dem Trost, den Gottes unerschütterliche, durch Christi Tod für alle Ewigkeit besiegelte Gnade mit sich bringt. Die Musik beginnt mit einer in ernsthaft-getragenem d-moll gehaltenen Eingangs-Sinfonia, in der Solooboe und Solovioline ein inniges, ihre Melodiebögen kunstreich ineinander verwebendes Klagelied anstimmen, vom Bass durch gleichmäßig pochende „Herzton“-Achtel abgestützt. Der Satz mündet in eine durch Trug- und Halbschluss-Seufzer prominent vorbereitete Kadenz, um dann zu einem Psalmenwort (94, 18) in einen vierstimmigen imitatorischen Choreinsatz zu münden. Zuvor aber erklingt im homophonen Satz das hochdramatische „Ich, ich ich“, der von Mattheson belächelte, von Bach bei allen Änderungen, die er an der Kantate vornahm, stets belassene Aufschrei des Menschen in seiner Not und einsamen Verzweiflung.            

Kleiner Exkurs: Der Liedermacher Wolf Biermann hat im Jahre 1991 eine Aufführung von BWV 21 mit seinen Assoziationen und Lebenserfahrungen begleitet und kommentiert. Dabei hatte es ihm gerade die dreimalige Wiederholung des „Ich“ angetan. Er, der im kalten Krieg Angst und Isolation in seinem Ostberliner Exil Chausseestrasse 131 tagein tagaus hatte durchleben müssen, zeigte sich tief berührt von der in Text und Musik so eindringlich gestalteten Not. Es erinnerte ihn an ein eigenes Lied, mit dem er 1962 seine Verzweiflung, Wut und Verachtung den DDR-Kollektivierungs-Bonzen um die Ohren geschlagen hatte und dabei  trotz gänzlich anderer Stilebene auf genau das gleiche Ausdrucksmittel verfallen war: „Ich, ich, ich / bin voller Hass / bin voller Härte / der Kopf zerschnitten / das Hirn zerstritten – Ich will keinen sehn! / Bleibt nicht stehn! / Glotzt nicht! / Das Kollektiv liegt schief ...“

Bei Bach führt der polyphone Satz zu den wieder und wieder repetierten Worten „Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen“ in fließendem Tempo zu einer Generalpause, und darauf folgt auf das Wort „aber“ ein eindrücklicher Dominantseptakkord, gleichsam ein Doppelpunkt, der den Blick auf die ersehnte Kehrseite zu allem Elend lenkt: Ich bin nicht allein, denn „deine Tröstungen erquicken meine Seele“, was musikalisch zunächst durch einen frei polyphonen Satz, dann in reicher Steigerung durch pleno sono von Chor und Orchester und schließlich mit einem strahlenden Schluss in C-Dur ausgeführt wird.

In der nachfolgenden Arie wird die tiefe Traurigkeit der Sinfonia wieder aufgenommen. Nun aber konzertieren zu den Worten „Seufzer, Tränen, Kummer, Not“ Solooboe und Sopran mit reicher Chromatik und abwärts geführtem melodischem Duktus in einer Seufzermotivik, die das ganze Stück bestimmt. Die Streicher begleiten das nachfolgende Rezitativ ebenso wie die Tenor-Arie. Diese ist ein musikalisches Gemälde, in dem im A-Teil und im Da Capo die „Bäche von gesalznen Zähren“ in stetem Sechzehntel-Fluss rauschen, während im Mittelteil die Gestaltung von „Sturm und Wellen“ dem Sänger einige Virtuosität abverlangt. Gleich darauf wird dieses bewegte Klangbild  mit einem im Adagio gehaltenen Passus kontrastiert, der auf zwei tote, hiesiges („hier versink ich in den Grund“) und metaphysisches Elend („dort seh ich der Hölle Schlund“) markierende, musikalisch durch Passus duriusculus-Chromatik verdeutlichte  Punkte zielt.

Wie der Eingangschor, so ist auch der Text des Schlusschores des ersten Teils „Was betrübst du dich, meine Seele und bist so unruhig in mir?“ Psalmwort (42, 12). Musikalisch ist der Satz wiederum durch genaue Textausdeutung charakterisiert. Er beginnt mit einem ruhigen, homophonen Choralsatz, um zu den Worten „und bist so unruhig“ mit Tempowechsel („Spirituoso“) in pointierte Imitatorik zu verfallen und zu „in mir“ zu kurzem, auf zwei Akkorden verharrendem Stillstand zu kommen. „Harre auf Gott“ ist wiederum im imitatorischen Satz gestaltet, während „denn ich werde ihm noch danken“ zum homophonen Choralsatz des Beginns zurückkehrt. Im Gegensatz zu dieser Vielfalt ist der zweite Teil einheitlich als strenge Fuge geformt, wobei die Instrumente sich teils in eigenständiger Weise an der Kanonik beteiligen, teils die Singstimmen verdoppeln.            

„Nach der Predigt“ folgt Teil zwei, eröffnet durch ein rezitativisches Zwiegespräch zwischen der das göttliche Licht suchenden Seele (Sopran) und dem tröstenden Christus (Bass), eingehüllt in ein überirdisch-zart gewirktes Streicher-Accompagnato. Dem schließt sich das berühmt-berührende Liebesduett „Komm, mein Jesu. Ja, ich komme“ an, in dem Sopran und Bass einander suchen  und finden, musikalisch gestaltet durch Wechselgesang, durch Kontrapunktik oder auch durch harmonische Terzenseligkeit.

Herzstück des zweiten Teils ist der Chor auf das Psalmwort „Sei nun wieder zufrieden, meine Seele“ (116, 7). Dieses ist mit der dritten und fünften Strophe des Kirchenliedes „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ von Georg Neumark (1621-1681) verwoben, und zwar dergestalt, dass zu den vielfach wiederholten Worten „Sei nun wieder zufrieden, meine Seele“ in einem ersten Teil Sopran, Alt und Bass ein abwärtsgerichtetes, nur vom Generalbass begleitetes Oktavthema figurieren, zu dem der Tenor den Choral nach Cantus firmus-Art in gut hörbaren Halben singt, während der zweite Teil bei gleicher Struktur dadurch eine festliche Steigerung erfährt, dass die Choralmelodie nun im Sopran liegt und Oboen, Streicher und vier Posaunen die Singstimmen jeweils verdoppeln.            

Kleiner Exkurs: Für Wolf Biermann, den Ungläubigen, wurde dieser Chor zu einem Musiktherapie-Erlebnis. Er, der nach eigenem Bekunden „zu oft zu traurig“ ist, empfindet den in die Polyphonie eingefügten Cantus firmus zu den Worten „Wir machen unser Kreuz und Leid nur größer durch die Traurigkeit“ wie einen „Gebetsriemen geflochten durch die Finger.“  So banal ihm die Verse scheinen, so sinnesstark werden sie ihm durch Bachs Musik, ja, sie scheinen ihm „wie die endlich gefundene Lösung meines Lebensrätsels.“ Denn: „Die Musik behauptet nichts, fordert nichts und eifert nicht. Die halben Noten trumpfen nicht auf, sie singen nur einfach eine Lebenserfahrung.“

In einer kurzen Da Capo-Arie fordert der Tenor, begleitet nur vom Cello und der Orgel, die Seele in beschwingtem 3/8tel-Takt auf, Kummer und Schmerzen fahren zu lassen und sich an der durch Jesus Christus ermöglichten Geborgenheit zu freuen. Und der Schlusschor beginnt zu einem Text aus der Offenbarung des Johannes (5, 12) mit einem hieratisch in den Klangraum gesetzten, durch drei Trompeten und Pauke erweiterten Block, um gleich darauf die Kantate mit einer vierstimmigen Fuge ausklingen zu lassen, der die Trompeten triumphale Glanzlichter aufsetzen. Ein gewaltiges Werk, das seinen Hörern durch Verlorenheit, Einsamkeit und Niedergeschlagenheit zunächst zu Hoffnung und wacher Erwartung und schließlich zu Freude und Verbundenheit führt.

 

Dagmar Hoffmann-Axthelm