Bachkantaten in der Predigerkirche
So. 8. Mai 2005, 17 Uhr

 


Einführung

Obwohl für den heutigen Sonntag nach Himmelfahrt ("Exaudi") zwei Kantaten von J.S. Bach vorliegen, haben wir der Festlichkeit wegen zwei grossbesetzte Kantaten ausgewählt, die Bach für das Fest Christi Himmelfahrt komponiert hat.

"Gott fähret auf mit Jauchzen"
Die Kantate BWV 43, "Gott fähret auf mit Jauchzen" ist zum 30. Mai 1726 entstanden.
Bach bedient sich dabei eines Textes aus einem Kantatenzyklus seines Vetters Johann Ludwig Bach (1677-1731), der in Meiningen (Südthüringen) als Kantor amtete. Das Besondere dieser Textgrundlage ist, dass zu den Bibelworten ein mehrstrophiges Gedicht tritt. Man erkennt die Form: Bibelwort (Altes Testament, Psalm 47, 6-7) - Rezitativ - Arie - Bibelwort (Neues Testament, Markus 16,19) - Strophengedicht - Choral.
Bach eröffnet die Kantate mit einem zweiteiligen Orchestervorspiel (langsam - schnell), welches die Motivik des Chores vorwegnimmt. Zu einer heftig erregten Streicherbewegung, die das Auffahren nachzeichnet, kommt die Trompete I mit einer konzertant angelegten Melodie hinzu, die sich in der Folge als Fugenthema erweist. Dreiklangsbrechungen und kurze signalmässige Bläsereinwürfe unterstreichen den Eindruck der Himmelsmusik ("mit heller Posaunen"), dem König einen festlichen Lobgesang darbietend.
Die folgenden Sätze der zweiteiligen Kantate sprechen ganz für sich selbst, deshalb soll hier auf Einzelbemerkungen verzichtet werden.

"Lobet Gott in seinen Reichen"
Das Himmelfahrtsoratorium BWV 11 ist am 19. Mai 1735 erstmalig aufgeführt worden – im selben Kirchenjahr, in welchem Bach auch das Weihnachtsoratorium komponierte. Es setzt sich zusammen aus bereits vorhandenen Sätzen (1, 4, 8), die leicht verändert wurden und neuen Kompositionen sowie zwei Chorälen. Der erste Satz hiess ursprünglich "Frohes Volk, vergnügte Sachsen" und leitete die Festmusik zur Einweihung der renovierten Thomasschule ein (1732). Der Eingangschor ist trotz seiner grossen Besetzung im 2/4-Takt sehr leicht gehalten und vermag durch die vielen aufwärtsgerichten Terzschleifer wie auch durch die auf- und absteigenden Tonleiterfiguren etwas von der erhebenden Kraft der Himmelfahrt hörbar zu machen.
Die Altarie "Ach bleibe doch, mein liebstes Leben" (4) ist wohl nicht die Grundlage des bekannten Agnus Dei in der h-Moll-Messe, sondern geht ihrerseits auf eine Arie aus einer Hochzeitskantate von 1725 zurück ("Entfernet euch, ihr kalten Herzen", BWV 196). Auch die Sopranarie (8) ist in dieser Hochzeitskantate als Vorlage zu finden ("Unschuld, Kleinod reiner Seelen"). Uns mag es heute merkwürdig anmuten, dass Bach weltliche Sätze parodiert und in einem geistlichen Zusammenhang verwendet hat. Aber in der Bachforschung wurde schon verschiedentlich gezeigt, dass Bach damit keine "Probleme" hatte: Erstens hatte er oft unter grosser zeitlicher Anspannung zu arbeiten; dann konnte oder wollte er Gelegenheitskompositionen z.B. für Hochzeiten nicht in der Schublade verschwinden lassen und drittens war sein ganzes künstlerisches Arbeiten gewiss von einer Grundstimmung geprägt, die geistliche und weltliche Musik als Geschenk Gottes begreift, deren "Finis oder Endursache anders nicht, als nur zu Gottes Ehre und zur Recreation des Gemüths" sei, wie Bach 1738 schrieb. Im letzten Satz des Himmelfahrtsoratoriums kombiniert Bach einen konzertanten Orchestersatz in der Haupttonart D-Dur mit dem Choral "Von Gott will ich nicht lassen". Der in langen Notenwerten geführte Cantus firmus liegt im Sopran, die unteren Stimmen weben darunter einen motettischen Satz. Das latente h-Moll des Chorsatzes wird ständig wieder zurückgeführt in ein festlich-zuversichtliches D-Dur.

Beide Kantaten schöpfen aus einer Fülle von Bildern der christlichen Theologie, die für uns Heutige nicht mehr so selbstverständlich sind.

"Tausend mal tausend begleiten den Wagen"
Was wir heutzutage wieder vorsichtig, wenn auch nebulös, als höhere Energien oder Engelskräfte bezeichnen, waren für viele Menschen bis weit in die Barockzeit hinein klar wahrnehmbare geistige Realitäten. Theologen und Maler entwarfen abgestufte Ordnungen dieser Himmelsbewohner, die Gott als höchstes Wesen umgeben und ihm durch immerwährendes Loben dienen. Bezeichnenderweise hat J.S. Bach die entsprechende Textpassage aus Jesaja 6,3 in seiner Bibel unterstrichen. Die Hierarchien gliedern sich in drei mal drei Chöre: Seraphim, Cherubim, Throne; Herrschaften, Mächte, Gewalten; Urkräfte (Fürsten), Erzengel und Engel. Auf diesem Hintergrund ergeht die Aufforderung an den Menschen (die 10. Hierarchie), Gott zu loben und damit einzustimmen in den himmlischen Jubel.

Die Kelter
Die schwere Arbeit des Keltertretens wurde seit dem Altertum meist von Fronknechten verrichtet, deren Körper - von rotem Traubensaft bespritzt – oft blutüberströmt wirkte.
Dieses Bild wird schon von Jesaja (63,3) verwendet und von den Kirchenvätern als eine Typologie des Opfertodes Christi gesehen. Aus freien Stücken verzichtet Christus nicht nur auf die höchste Hierarchie, sondern geht den Leidensweg bis zum Tod am Kreuz, "er tritt die Kelter ganz allein" (BWV 43,7). Neben der sieghaft triumphierenden Trompetenstimme verwendet Bach in dieser Bassarie im Basso Continuo Motive, die eindeutig Orgelpedalfiguren sind, d.h. also bildlich getreten werden.

Ausser den Trompeten und Pauken, Attributen der königlichen Macht, bedient sich Bach im Himmelfahrtsoratorium auch zweier Traversflöten: Sie erscheinen hier in Verbindung mit der Trauer der Jünger ("Heisse Tränen") und als Ausdruck menschlicher Sehnsucht ("komme bald").

Geste des Abschieds
Im biblischen Bericht (Lk. 24, 51) nimmt das Ereignis der Himmelfahrt nur einen Nebensatz ein: "Und es geschah, da er sie segnete, schied er von ihnen." Genauso kurz aber enorm eindrucksvoll gestaltet Bach das entsprechende Rezitativ (BWV 11,2): Die Worte "schied er" vertont er mit einem aufsteigenden Sprung in die grosse Septime. Diese Geste scheint die grösstmöglichste Spannung und Entfernung auszudrücken und dient darüber hinaus als Intervall der Verwandlung.

 

 

Wohin entschwindet Jesus?
Bei Giotto (um 1304) sehen wir Christus emporschweben, umgeben von himmlischen Heerscharen.


Giotto di Bondone: Himmelfahrt.
Fresko um 1304, Padua, Arenakapelle

 


 


Auf dem Holzschnitt Dürers (1511) sieht man nur noch die Füsse Christi am oberen Bildrand. Eine mächtige Wolke deutet auf die Wucht des Ereignisses.


Albrecht Dürer: Himmelfahrt.
Holzschnitt, 'Kleine Passion' 1511
 
   


Bei Rembrandt (1636) hingegen öffnet sich der Himmel; genau in der Bildmitte schwebende Putten scheinen Christi lichte Gestalt in einen verklärten Kosmos gleichsam emporzutragen.


Rembrandt van Rijn: Christi Himmelfahrt, 1636
Leinwand, 92.2 x 68.3 cm.  München, alte Pinakothek

 




Wunderbar hat auch Bach diesen der Erdenschwere entrückten Zustand dargestellt: In der letzten Arie des Himmelfahrtsoratoriums "Jesu, deine Gnadenblicke" stellt er dem Sopran zwei Blasinstrumente zur Seite (das Element Luft); er verzichtet auf einen Basso Continuo und lässt dagegen die Streicher eine hohe, tänzerische Basslinie spielen. Was hier spürbar wird, kann "Levitas" genannt werden, die unendliche Leichtigkeit, die Aufrichtekraft.
"Deine Liebe bleibt zurücke": Sie erleuchtet die Gesichter der zurückbleibenden Jünger, sie verwandelt alles und macht auch die folgende "Gravitas" des Schlusssatzes erträglich.

Erdenschwere und Himmelsleichte
Diese Polarität lässt sich nicht allein auf theologischer Ebene erfahren. In jeder Bewegung steckt bekanntlich ein Moment der Schwerkraftüberwindung. Dies wurde im Auf und Nieder der barocken Tanzbewegungen (plier-éléver) körperlich wahrnehmbar; sichtbar in barocker Kunst und Architektur; musikalisch hörbar in differenziert pulsierenden Akzenten.
Jesus entschwindet in den Kosmos, er wird der Herr der Elemente: "Luft, Wasser, Feuer, Erden muss dir zu Dienste werden" (BWV 11, 6). Er verbindet sich elementar und durch die "Gnadenblicke" erneut mit der irdischen Welt.

In der Formulierung Martin Luthers:
"Christi Himmelfahrt und sein Sitzen zur Rechten Gottes muss man ein tätig und kräftig Ding sein lassen, das immerdar im Schwange geht, und nicht denken, dass er aufgefahren sei, da oben sitze und uns hier regieren lasse. Sondern darum ist er aufgefahren, weil er dort am meisten schaffen und regieren kann. Denn wenn er auf Erden vor den Leuten sichtbar geblieben wäre, hätte er nicht so viel schaffen können. Denn es hätten nicht alle Leute bei ihm sein und ihn hören können. Darum hat er es so angefangen, dass er mit allen zu schaffen habe und in allen regiere; dass er ihnen allen predige, sie es alle hören und er bei allen sein könne. Darum hüte dich, dass du nicht so denkest, dass er jetzt weit von uns weg sei, sondern grad umgekehrt: da er auf Erden war, war er uns zu fern, jetzt ist er uns nahe."
Martin Luther, Sermon am Himmelfahrtstage über Markus 16 (14 ff.),
am 14. Mai 1523

Jörg-Andreas Bötticher