Bachkantaten in der Predigerkirche
So. 10. April 2005, 17 Uhr
 

 


Bachkantaten im Osterfestkreis

Die fünf Sonntage nach Ostern (Quasimodo geniti, Misericordia, Jubilate, Cantate, Rogate) sind überstrahlt vom österlichen Auferstehungslicht. In die Freude der Jünger Jesu mischt sich aber auch die Traurigkeit über Jesu Abschied und die Ungewissheit ihres weiteren Weges.
Für den heutigen sogenannten Gute-Hirte-Sonntag wurde die Kantate
"Du Hirte Israel, höre" (BWV 104) ausgewählt, sowie die Kantate BWV 146
"Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen", die von Bach für den Sonntag Jubilate vorgesehen war.

Am Sonntag Misericordia Domini wurde zur Bach-Zeit das Gleichnis vom Guten Hirten gelesen (Joh. 10, 11-16). Der unbekannte Textdichter der Kantate 104 greift dieses Bild auf und zeichnet es äusserst plastisch, indem er aus einem reichen Fundus von biblischen Querverbindungen schöpft. Nach der Eröffnung, die eine Anrufung an den "Hirten Israel" (Jahwe) um Trost darstellt (Psalm 80, 2), nimmt der Textdichter die Position eines Schafes ein, das über sein (glückliches) Schicksal nachdenkt. Im fünften Abschnitt (Bassarie) wird die Herde (die christliche Gemeinschaft) wie von aussen betrachtet und die Aussage allgemeiner gefasst, die der Schlusschoral schliesslich durch die Paraphrase des bekannten 23. Psalms (Cornelius Becker 1595) bekräftigt.
Bach eröffnet die Kantate mit einer 24-taktigen pastoralen Sinfonia in der Besetzung für drei Bläser (Hirteninstrumente) und Streicher, deren Motivik vom Chor aufgegriffen wird und nach weiteren 28 Takten in eine weitgespannte Chorfuge mündet. Auch die Aria Nr. 5 - im 12/8 -Takt mit vielen gleich bleibenden Harmonien und wiegenden Bass-Oktaven - ist pastoral gehalten. Einzig die weder im Dreiertakt noch in einer Durtonart stehenden Aria Nr. 3 bildet einen Gegenpol: Mit vielen chromatischen Gängen und überraschender Harmonik ("allzu bange") zeigt sie die "Wüstenerfahrung", die vermeintliche Abwesenheit des Guten Hirten. Der Tenor wird hier von zwei Oboen d’amore begleitet. Auf das Textwort "du Hirte, wirkst in mir ein gläubig Abba durch dein Wort" wendet Bach die um den h-Moll-Bereich verzweifelt kreisende und suchende Harmonie ziemlich unerwartet in ein strahlendes D-Dur.

Jesus, der Gute Hirte und das Pastorale
Dem Lebenshorizont eines Menschen zur Zeit Christi war das Bild eines mit seiner Herde wandernden Hirtes sicher vertrauter und selbstverständlicher als einem städtischen Menschen der Barockzeit (geschweige denn uns heutigen Mitteleuropäern). Die Mühen des Hirten bei seiner Suche nach guten Weideplätzen und bei der Abwehr von Gefahren waren gewiss eindrücklich; wohltuend das Nachempfinden der sicheren Führung und der Sorglosigkeit aus der Sicht der Schafe. Schon zur Reformationszeit wurde der Topos des Schafstalls allerdings als antipapistische Polemik benutzt. Und spätestens nach der Aufklärung, dem "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Kant 1784) mag niemand mehr ungeniert erbitten "führe mich in deinen Schafstall ein" – wer möchte noch ein unmündiges Schaf sein?
Man macht es sich jedoch zu leicht, wenn man damit jedes Pastorale als nostalgische Hirtenromantik belächelt. Auf dem Hintergrund der Vorstellung von Arkadien als dem gelobten Land (Vergil) bildete sich eine lange Tradition, wo (Hirten-) Instrumente, einfache Tonarten, meistens Dreier-Taktarten sowie volksmusikartige Spielarten sich zu einem idyllischen Gesamtbild zusammenfügten. Gerade im Barock wurde in Poesie und Musik die Bukolik sehr geschätzt. Dabei ging es um viel mehr als das Empfinden eines "ländlichen Kolorits" (Alfred Dürr 1971). Während sich in Italien zu Ende des 17. Jahrhunderts arkadische Gesellschaften bildeten (u.a. mit A. Scarlatti und Corelli), pflegten in Deutschland z.B. die "Pegnitz-Schäfer" den locus amoenus, das irdische Arkadien. So schwingt in jedem Pastorale etwas von der irdisch-himmlischen Sehnsucht mit. Fussend auf Forschungen der Basler Theologin Helene Werthemann (1960) konnte Renate Steiger (1971) zeigen, dass sich J.S. Bach des Pastoralen und insbesondere des 12/8-Taktes in seinen Kompositionen bedient, ".... wo immer er die Gegenwart des verheissenen Heils verkündigt sieht. Es dient ihm zur Darstellung des Eschatologischen, des letztgültigen Trostes, der endzeitlichen Freude." Diese Beobachtung bestätigt sich in vielen Kantaten und Passionen Bachs und kann in Satz 5 dieser Kantate besonders gut wahrgenommen werden.

Schon jetzt und doch noch nicht
Die inhaltliche Verbindung zwischen beiden Kantaten und gleichzeitig auch ein Schlüssel für das Verständnis von Bachs theologischer Auffassung ist die Haltung des "Schon jetzt" und des "Noch nicht". Das Reich Gottes, "des Himmels Vorschmack" ist schon da; und doch hat es noch nicht seine ganze Gestalt angenommen, ist die Herrlichkeit Gottes noch nicht vollständig offenbart worden. Am deutlichsten wird dies in Satz 5 der Kantate 104:

Die Welt ist euch ein Himmelreich.
Hier schmeckt ihr Jesu Güte schon
Und hoffet noch des Glaubens Lohn
Nach einem sanften Todesschlafe.

 

"Eure Traurigkeit soll in Freude verkehrt werden"
Am Sonntag Jubilate stand ein Abschnitt aus Jesu Abschiedsreden an seine Jünger (Joh. 16, 16-23) im Zentrum: "Ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verkehrt werden." Setzt Bach mit der Kantate 104 mehr den freudig-zuversichtlichen Akzent, so ist die Kantate 146, die zum 12.5. 1726 oder 18.4. 1728 entstanden ist, gleich von Anfang an geprägt von der Trübsal, die auf dem Weg in das Reich Gottes unausweichlich erscheint. Der Titel der Kantate ist ein Vers aus der Apostelgeschichte (14, 22). Paulus hat auf seiner ersten Missionsreise soeben einen Lahmen geheilt. Daraufhin will das Volk ihn als Gott verehren. Er aber zieht aus Protest seine Kleider aus und versucht die Masse zu bekehren. Diese Reaktion muss er mit einer Steinigung büssen, die er nur knapp überlebt. Einen Tag später ist der Unermüdliche schon wieder in der gleichen Stadt und spricht zusammen mit Barnabas seinen Jüngern Mut zu: "Sie stärkten die Seelen der Jünger und ermahnten sie, dass sie im Glauben blieben und dass wir durch viel Trübsal müssen in das Reich Gottes gehen." Solch ein äusserlich spektakulärer Leidensweg mag J.S. Bach unseres Wissens wohl erspart geblieben sein. Seine Glaubenskämpfe waren anderer Art: Der frühe Verlust seines Vaters und seiner ersten Frau, die tägliche Sorge um seine grosse Kinderschar, häufige Auseinandersetzungen mit seinen Dienstherren (vor allem in Leipzig), dazu das ständige Ringen, mit seiner Musik eine angemessene Antwort auf die Anfrage des Glaubens zu finden. Dies bezeugen nicht nur die vielen Kantatentexte zu diesem Thema, auch persönliche Zeugnisse bestätigen dieses Bild. So schrieb er beispielsweise 1738 in einem Brief, er müsse sein "Creütz in Gedult tragen" (vgl. Rezitativ Nr. 6). Und dem Theologiestudenten Johann G. Fulde schrieb Bach 1747 einen Doppelkanon ins Stammbuch, dazu die Bemerkung: "Symbolum. Christus Coronabit Crucigeros" ("Christus wird die Kreuztragenden krönen"). Der Weg des Glaubens in dieser Welt ist eine via crucis, ein Kreuzweg – also ist auch Bachs Weg ein solcher. Darüberhinaus scheint Bach das Leiden der ganzen Welt mitempfunden zu haben - die Tiefe und Universalität seiner Musik geben davon Zeugnis.

Anmerkungen zu den einzelnen Sätzen von BWV 146
Mit einer langen Sinfonie für obligate Orgel und Orchester, deren Entstehungsgeschichte allerdings im Dunklen liegt, geht Bach "in medias res": Ein kämpferisches Thema im Orchesterunisono mit einer anfangs stufenweisen und dann immer mehr erweiterten Intervallik, verbunden mit sperrigen Synkopen, kadenzierend mit "salti duriusculi" (harten Sprüngen) macht klar, dass es sich um einen aktiven, aber dornenreichen Lebensweg handelt.
Die Quellenlage dieser Sinfonia sei hier kurz skizziert:

- Ausgangspunkt bildet ein (heute verschollenes) Konzert für Violine und Orchester.
Zwischen 1726 und 1728 wird Bach dieses Konzert als Vorlage für die Kantate 146 genommen haben; dabei muss er jedoch vom Umfang her Anpassungen an der Solo- Violinstimme vorgenommen haben, da diese zumindest in der Höhe den Umfang der Orgel sprengt. Leider ist kein Autograph erhalten.

- Die Musik muss seinem Sohn Carl Philipp so gut gefallen haben (oder Bach hat ihn dazu beauftragt), dass er kurz vor 1734 daraus eine eigene Bearbeitung für Cembalo und Orchester angefertigt hat (BWV 1052a).

- Um 1738 hat auch Vater Bach die Sätze 1 und 2 der Kantate für sein Cembalokonzert d-Moll BWV 1052 verwendet.

Im zweiten Satz überlagern sich mehrere Ebenen: Zu dem über 12 Takte von den Streichern unisono geführten, verzweifelt klagendem Thema kommt der vierstimmige Chorsatz mit der Hauptaussage "Wir müssen durch viel Trübsal ...". Danach setzt die Orgel mit einem neuen Motiv ein, das wie eine Umkehrung des Anfangsmotivs wirkt und sich nach und nach melodisch und rhythmisch entfaltet. Diese Überlagerung stellt an Spieler und Hörer hohe Ansprüche – es ist nicht leicht, die Trübsal mit Klarheit zu durchdringen.
Der dritte Satz ist mit seiner sehnsuchtsvollen Melodik und der hellen B-Dur-Tonart ein erster Lichtblick und wendet sich "dem Himmel zu". In den überlieferten Abschriften hat Bach weder die Singstimme noch das obligate Instrument bestimmt. Von der Lage her scheint uns dieser Satz am besten für Alt und Violine geeignet.
Nach einem Accompagnato-Rezitativ, welches zwischen Klagen über die Verfolgungen dieser Welt und Himmelssehnsucht schwankt, folgt eine Sopran-Arie mit der eher aussergewöhnlichen Besetzung Traversflöte und zwei Oboen d’amore. Auch diese Arie bewegt sich zwischen Trauer und Freude, dem "Säen der Zähren" (Tränensaat) und der "seligen Ernte". Die Arie 7 bietet durch ihren leichten, tänzerischen Duktus, verbunden mit der "figura corta" (kurze rhythmisch-prägnante Verzierungsfigur) einen Vorgeschmack der himmlischen Freuden. Der abschliessende Schlusschoral ist ohne Text überliefert. Von der ganzen Kantaten-Thematik her mag die erste Strophe des Liedes "Freu dich sehr, o meine Seele" (Christoph Demantius, 1620) als Ergänzung am naheliegendsten sein.
Jörg-Andreas Bötticher