Bachkantaten in der Predigerkirche
13. März 2005
 
   
BWV 131
Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir
 
BWV 159
Sehet, wir gehn hinauf gen Jerusalem
 
   
   

Der heutige Sonntag Judica ist der fünfte Sonntag in der 40-tägigen Fastenzeit, und da nun die Karwoche nahe bevorsteht, trägt er auch den Namen "Passionssonntag". In der katholischen Kirche werden heute Kruzifixe und Bilder mit violetten Tüchern verhüllt, und zu Bachs Zeit gab es in der lutherischen Kirche in Leipzig an diesem Tag wie auch in der ganzen übrigen Fastenzeit keine Figuralmusik. Zur Einstimmung auf den Karfreitag sollen nun aber heute Abend die beiden Kantaten BWV 131 Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir und BWV 159 Sehet, wir gehn hinauf gen Jerusalem erklingen.

Die Kantate BWV 131 Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir ist eine frühe,  ja vielleicht sogar die früheste erhaltene Kantate Bachs, entstanden um 1707-08 in der Zeit, da er Organist an der Kirche Divi Blasii in Mühlhausen war. Der Anlass für die Entstehung des Werkes ist unbekannt. Von seinem Inhalt her ist aber anzunehmen, dass es für einen Bussgottesdienst geschaffen wurde, vielleicht im Zusammenhang mit jener grossen Feuersbrunst, die kurz vor Bachs Amtsantritt in Mühlhausen gewütet hatte. Der Text setzt sich aus dem wörtlich übernommenen 130. Psalm – es ist der sechste der sieben Busspsalmen – und zwei Strophen des Bussliedes "Herr Jesu Christ, du höchstes Gut" von Bartholomäus Ringwaldt zusammen, das im Original die Überschrift "Ein fein Lied von Vergebung der Sünden" trägt. Diese Zusammenstellung ist wahrscheinlich Georg Christian Eilmar, dem Pastor der Marienkirche in Mühlhausen, zu verdanken, heisst es doch am Schluss der autographen Partitur: "Auff begehren Herrn D. Georg. Christ. Eilmars in die Music gebracht von Joh. Seb. Bach." Die Kantate ist streng symmetrisch gebaut. Die Nummern 1, 3 und 5 sind Chorsätze, die dazwischen liegenden Nummer 2 und 4 sind Arien mit Choral für Bass und Sopran bzw. Tenor und Alt. Formal lehnt sich das Werk noch ganz an die geistlichen Kantaten des 17. Jahrhunderts an. So sind die einzelnen Teile nicht streng von einander getrennt, sondern reihen sich aneinander, wie das auchs in den Motetten üblich war. Die Chorsätze, die alle die Form langsam-schnell haben, entsprechen dem Ablauf von Präludium und Fuge der Werke für Orgel, was dem Organisten Bach besonders vertraut war. Die Solostücke schliesslich sind mit dem geringstimmigen frühen Geistlichen Konzert verwandt. 

Auch der selbstverständliche Umgang mit einem alttestamentlichen Psalm ist in der kirchlichen Tradition verwurzelt und ebenso seine neutestamentliche Interpretation. Sie kommt in der Kantate BWV 131 durch die beiden Choralstrophen zu Stande, in denen die Vergebung der Sünden mit Christi Kreuzestod in Verbindung gebracht wird: "dieweil du sie gebüsset hast am Holz mit Todesschmerzen" und die Erlösung von Sünden mit seinem Blut: "und wollte gern im Blute dein von Sünden abgewaschen sein". Das gilt nun auch schon für die alttestamentlichen Könige David und Manasse, die beide – nach bösen Taten Reue zeigend – die von Christus erwirkte Gnade und Vergebung erfuhren. Dass umgekehrt beim Wort Israel auch an die Christenheit zu denken ist, war für den Theologen Eilmar – und sicher auch für Bach –  völlig klar, hatte doch Martin Luther dafür bei seiner Liedübertragung des 130. Psalms "Aus tiefer Not schrei ich zu dir" im Anschluss an paulinische Gedanken folgende  Formulierung gefunden: "so tu Israel rechter Art, der aus dem Geist erzeuget ward, und seines Gotts erharre." Inhaltlich ist schon im Psalm selbst angelegt, was durch die Vertonung unterstrichen wird: Es wird ein Weg zurückgelegt aus der Tiefe der selbstverschuldeten Not zur Zuversicht der Erlösung. Dieser Weg beginnt musikalisch mit der kurzen Sinfonia am Anfang und endet mit der Fuge am Schluss. Dazwischen liegt die Bitte um Vergebung bei Gott, dem mit Furcht zu begegnen ist (Satz 2). Auf ihn zu harren und auf sein Wort zu hoffen, bekennt der Beter im Chorsatz 3. Dass dieses Warten auch lange dauern kann, wird im Satz 4 deutlich, welcher der längste des ganzen Werkes ist: "Meine Seele wartet auf den Herrn von einer Morgenwache bis zu der andern". Da aber beim Herrn Gnade und viel Erlösung ist, kann Israel dieser Erlösung gewiss sein, so im Chorsatz 5 mit der grossen Schlussfuge: "Er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden". Die Mitte dieses Weges, die im Chorsatz 3 erreicht wird, ist gleichzeitig der Ort der Wendung, was sprachlich bereits im Psalm enthalten ist. Nach der Anrede Gottes aus der Tiefe der Not in den Versen 1-4  heisst es jetzt in Vers 5: "Ich harre des Herrn", und an diesem Entschluss wird bis ans Ende festgehalten. An diesem Wendepunkt also beginnt – wenn auch noch immer innerhalb des Busspsalms – das zuversichtliche Hoffen, und es ist deshalb sicher kein Zufall, dass Bach gerade diesen mittleren Satz als einzigen in Dur beginnen lässt.

 

Die Kantate BWV 159 Sehet, wir gehn hinauf gen Jerusalem, die wahrscheinlich am 27. Februar 1729 zum ersten Mal aufgeführt wurde, gehört auf den Sonntag Estomihi: "Sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass du mir helfest" (Introitus aus Psalm 31, 3f.). Dieser Sonntag war in Leipzig der letzte, an welchem vor der am Aschermittwoch beginnenden Passionszeit noch einmal Figuralmusik erklang. Das zweiteilige Evangelium steht in Lukas 18, 31-43. In dessen erstem Teil redet Jesus zum dritten Mal zu den Jüngern von seinem bevorstehenden Leiden in Jerusalem, im zweiten Teil wird die Heilung eines Blinden am Weg erzählt, der den vorübergehenden Jesus um Erbarmen bittet: "Du Sohn Davids, erbarme dich mein." Auf diese Geschichte wird in der Kantate BWV 159 nicht eingegangen. Ihr Text, der aus dem dritten Teil der Ernst=, Schertzhafften und Satyrischen Gedichte von Christian Friedrich Henrici von 1728 stammt, ist vielmehr ganz auf die Leidensverkündigung ausgerichtet. Es ist nach Alfred Dürr eine fesselnde Vorstellung, dass diese Kantate, sollte sie wirklich für den Sonntag Estomihi des Jahres 1729 geschaffen worden sein, die letzte Figuralmusik gewesen wäre, die vor der am Karfreitag des gleichen Jahres zum ersten Mal erklingenden Matthäuspassion zur Aufführung gelangte.

Die Kantate beginnt im Satz Nr. 1 mit der wörtlichen Übernahme der Aussage Jesu: "Sehet wir gehn hinauf gen Jerusalem." Es ist ein nur vom Continuo begleitetes Arioso, das von der Bassstimme als der Stimme Christi gesungen wird. Dazu kommt die Altstimme, welche die Rede Jesu zweimal unterbricht und dann abschliessend deutet. Ihr Text ist als ausinstrumentiertes Rezitativ vertont, wie übrigens auch das Wort "Jerusalem" bei seinem ersten Vorkommen in der Rede von Jesus ausinstrumentiert ist, wodurch die Bedeutung dieser Ortsangabe unterstrichen wird. Die sich einmischende Altstimme ist eine Stimme, die – auch wenn sie Fragen stellt, Einwände macht, den Gang nach Jerusalem verhindern will – Bescheid weiss über das, was Jesus dort bevorsteht. Sie kennt auch die Bedeutung dieses Leidens: "Doch bliebest du zurücke stehen, so müsst ich selbst nicht nach Jerusalem, ach, leider in die Hölle gehen." Und diese gleiche Stimme ist es nun auch, die sich in der Arie Nr. 2 zur Nachfolge Jesu verpflichtet, und zwar in allen Stationen seines Leidens bis hin zum Tod am Kreuz, nach welchem er sein Grab "in mir" erlangen möge. Der Arie, die  in Es-dur steht und in einem fliessenden 6/8-Takt geschrieben ist, haftet etwas freudig Tröstliches an. Ihre besondere Bedeutung erhält sie aber dadurch, dass in ihren Text die 6. Strophe "Ich will hier bei dir stehen, verachte mich doch nicht" des Passionsliedes "O Haupt voll Blut und Wunden" von Paul Gerhardt hinein verwoben ist. Zeile um Zeile wird der Choral – unterstützt durch eine Oboe – von der Sopranstimme gesungen. Im Zusammenhang mit Jesu Leiden wird daraufhin in einem kurzen Secco-Rezitativ für Tenor in echt barocker Weise allen irdischen Freuden abgesagt und der Blick auf die Herrlichkeit   gerichtet, die den Erlösten im Himmel bevorsteht.

Die darauf folgende Arie Nr. 4 "Es ist vollbracht" – ein weiterer Höhepunkt der Kantate – hat Philipp Spitta  als "unbeschreiblich fromm und gefühlstief"  bezeichnet. Sie ist der Bassstimme übertragen, dies wohl im Zusammenhang mit dem ihr zugrunde liegenden letzten Wort Jesu am Kreuz nach Johannes 19, 30: "Es ist vollbracht". Mit diesem Wort gestaltet Bach die Arie, indem er es am Anfang, in der Mitte und am Ende einsetzt. So ist der Sündenfall durch Christi Tod aufgehoben und also die Gerechtmachung der Menschen vor Gott vollbracht worden. Dafür ist Gott eilig Dank und der Welt "Gute Nacht" zu sagen, worauf mit einem nochmaligen "Es ist vollbracht" die Arie beendet wird. Da das musikalische Motiv auch von der Solo-Oboe immer wieder vorgetragen wird, ist das  tröstliche Jesuswort gleichsam ständig präsent. Ein von Henrici vorgesehenes Rezitativ hat Bach nicht vertont. Vielmehr lässt er der Bassarie gleich den Schlusschoral "Jesu, deine Passion ist mir lauter Freude" folgen. Er bildet den Schluss des Passionsliedes von Paul Stockmann, welches das Leiden Christi in vielen Strophen bedenkt und mit der Bitte endet: "in dem Himmel eine Stätt' mir deswegen schenke."    

Zwischen den beiden Kantaten erklingen die sieben partite diverse BWV 766 für Orgel über das Abendlied "Christ, der du bis der helle Tag". Das Werk stammt wie die Kantate BWV 131 "Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir" aus Bachs Frühzeit. Es ist im Variationenstil von Jakob Boehme geschrieben, dessen Orgelschüler Bach in Lüneburg gewesen war. Das ihm zugrunde liegende Lied ist eine Übertragung des mittelalterlichen Hymnus "Christe, qui lux es et dies". Jeder der sieben Variationen liegt eine Strophe des Liedes zugrunde, in denen von Tag und Nacht, von Finsternis und Licht, vom Satan und den Engeln die Rede ist. Und so wird in der 5. Strophe an Jesus die Bitte um Schutz vor der Macht des Satans gerichtet: 

"sind wir doch dein ererbtes Gut, erworben durch dein theures Blut,
das war des ewgen Vaters Rath, als er uns dir geschenket hat."

 

Helene Werthemann