Bachkantaten in der Predigerkirche
Sonntag. 9. Januar 2005, 17 Uhr
 

Kantate BWV 65
Sie werden aus Saba alle kommen

BWV 547
Praeludium und Fuge C-Dur

Kantate BWV 124
Meinen Jesum lass’ ich nicht

Einführung

Welch grandiose Szene der alttestamentlichen Prophetie (Jesaja 60): Aus dem südarabischen Reich Saba, dem heutigen Jemen, kam einst die Königin zu Salomo und prüfte dessen Weisheit durch Rätselfragen (vgl. dazu das Oratorium von Händel, The Queen of Sheba). Nun wird das legendäre Saba zum Ausgangspunkt der Wallfahrt der Völker; alle kommen, nicht nur die drei Weisen mit ihren symbolischen Gaben Gold (Glaube), Weihrauch (Gebet) und Myrrhe (Geduld); auch die vierten, fünften, sechsten Könige, die Namenlosen, ein unendlicher Zug, dem Sterne folgend, dem Lichte entgegen.
Bach vertont diese Szene in Kantate BWV 65 als ein wiegendes Pastorale im 12/8-Takt mit einer aufsteigenden Tonleiter (Anabasis). Man wird geradezu eingeladen, sich dem Zug anzuschliessen. Nach einem von den Corni da Caccia eingeleiteten Orchestervorspiel setzen die Chorstimmen mit der gleichen Motivik fugiert ein: Der Zug aus Saba wird immer grösser. Bach entwickelt aus dem Anfangsmotiv ständig neue Fugen, die getragen von einem reich besetzten Bläserensemble immer weiter strömen und und schliesslich in der einmütigen Aussage (14 Stimmen unisono) gipfeln: " ... des Herren Lob verkündigen".

Die nachfolgenden Sätze thematisieren die Frage des angemessenen Geschenkes für den Himmelskönig. Wieder bezieht sich der unbekannte Textdichter auf das Alte Testament. "Gold aus Ophir ist zu schlecht": Aus dem bis heute nicht genau zu lokalisierenden Lande oder Ort Ophir (in Indien oder Afrika) liess König Salomo einst 420 Zentner Gold bringen; sein Tempel erstrahlte als Haus Gottes im Goldglanz. Ophirgold wurde zum Inbegriff des grössten denkbaren Wertes. Doch schon Jesaja prophezeite, dass ein Mensch hervorkommen wird, der kostbarer als Feingold ist und wertvoller als Goldstücke aus Ophir (Jes. 13, 12). Kein Material dieser Welt kann den unermesslichen Wert aufwiegen, den Jesus mir in sich selber schenkt. Die Hingabe des eigenen Herzens bleibt als einzig adäquate Antwort auf Jesu Geburt. Es ist in diesem Zusammenhang nicht verwunderlich, dass von altersher in Mythologie, Theologie und Medizin zwischen der Sonnenkraft des Goldes und dem menschlichen Herzen ein enge Verbindung gesehen wurde.
Die Tenorarie (Satz 6), ein Menuett, beginnt mit einer aussergewöhnlich langen Orchestereinleitung. Bach kontrastiert fünf Klanggruppen in allen möglichen Kombinationen (Hörner, Blockflöten, Oboen da caccia, Steicher und Basso Continuo). Dazu kommt nach 32 Takten der Tenor mit der Bitte "Nimm mich dir zu eigen hin". Tänzerisch-dialogisierend unterstreichen die Instrumente das vom Tenor in sich steigernden Diminutionen vorgetragene Gelübde. Dem untextiert überlieferten Schlusschoral nach einer Melodie von Claudin de Sermisy (1547) wurde im späten 18. Jahrhundert - vermutlich in Bachs Sinne - der 10. Vers des Liedes von Paul Gerhardt "Ich hab in Gottes Herz und Sinn" (1647) unterlegt. Auf diese Weise klingt die in C-Dur begonnene Kantate sinnig mit dem Wort "erhöhe" drei Schritte höher im Quintenzirkel in einem hellen A-Dur-Akkord aus.


Das in den 1740er Jahren entstandene Praeludium und die Fuge C-Dur (BWV 547) erscheint uns als sinnvolle Ergänzung zur Kantate 65. Zum einen ist das Thema des Praeludiums nahezu identisch mit dem Hauptmotiv des auch tonartlich gleichen Eingangschores und lässt schon eine gewisse innere Verwandtschaft vermuten. Zum anderen tritt ab dem 6. Takt eine sechstönige, absteigende16tel-Figur auf, die man leicht als eine für Bach typische, motorische Bewegung ignorieren könnte, die sich aber als ein Zitat bzw. eine Vorwegnahme aus Bachs spätem Variationszyklus "Vom Himmel hoch" (BWV 769, 1747) erweist. Die Kombination beider Figuren im gleichen Orgelstück legt die theologische Aussage nahe, dass erst in der Verbindung der menschlichen (Zug aus Saba, Anabasis) und der Himmelskräfte ("Vom Himmel hoch", Katabasis) das Weihnachtsgeheimnis wahr werden kann.
Die Fuga C-Dur greift die Motivik der Orgelfughette "Allein Gott in der Höh sei Ehr" (BWV 677) auf. Damit ist der weihnachtliche Bezug zum Gloria in excelsis der Engel vollends gegeben. Bach bedient sich in diesem Stück insbesondere der kompositorischen Kunstmittel Umkehrung (nach 26 Takten) und Vergrösserung: Nach dem nach 47 Takten der Höhepunkt der vierstimmigen Fuge mit der Dominante erreicht und die Schlusskadenz erwartet wird, steigert Bach die Hörerwartung nochmals durch gebrochen-figurierte Akkorde (wie im Orgelchoral "Nun komm der Heiden Heiland", BWV 599) und die 5. Stimme setzt schliesslich als tiefer Pedalbass mit dem Thema in der Vergrösserung ein. Ein Zeitlupeneffekt, den Bach mit dissonanten Akkorden und Generalpausen zur Zeitlosigkeit verdichtet. Dann bricht der himmlische Jubel aus, Thema und Umkehrung ertönen gleichzeitig ("als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn").

 

 

Die Kantate BWV 65 erklang am Epiphaniasfest 1724 in Bachs erstem Amtsjahr in Leipzig, die Kantate BWV 124 im darauffolgenden Jahr am 7. Januar (1. Sonntag nach Epiphanias). Während die Kantate 65 mit ihrer luxuriösen Bläserbesetzung zeigt, welche Bedeutung dem Epiphaniasfest zu seiner Zeit beigelegt wurde (Dürr 1971), wird in der Kantate 124 neben einer Oboe d’amore nur ein den Sopran verstärkendes Corno (Horn) verlangt, welches wir in der heutigen Aufführung mit einer Tromba da tirarsi (Zugtrompete) besetzen.

Am 1. Sonntag nach Epiphanias wurde die Geschichte des 12-jährigen Jesus im Tempel verlesen (Lk. 2, 41-52). Inwiefern der Text der Kantate 124 darauf Bezug nimmt, ist nicht unmittelbar verständlich. So schildert der unbekannte Textdichter weder die einzelnen Stationen dieser für die Eltern dramatisch verlaufenden Geschichte, noch zeigt er die einzigartige Position des unter den Schriftgelehrten lehrenden Knaben Jesus auf. Auch die zentrale, erste bekannte Aussage Jesu: "Wisset ihr nicht, dass ich sein muss in dem, das meines Vaters ist?" wird weder moralisch noch entwicklungspsychologisch (etwa als Loslösungsprozess) gedeutet. Im Zentrum steht einzig die Kraft, die sich in der elterlichen Angst um den Verlust des geliebten Sohnes zeigt. Sie wird als Konsequenz dieses Erlebnisses zum Ausgangspunkt für eine brennende Jesusliebe. Unter Verwendung des (Sterbe-)Chorales "Meinen Jesum lass ich nicht" (Christian Keimann 1658) gestaltet Bach den Eingangssatz als Orchesterstück mit konzertierender Oboe, kunstvoll kombiniert mit einem motettischen Chorsatz. Unerwartet heftig wird der Hörer im 3. Satz aus der beschaulichen Szene im Tempel herausgerissen und an den eigenen Tod erinnert: wiederholte Streicherakkorde und kurze, staccato-bezeichnete Basstöne markieren den von Angst und Schrecken begleiteten Todesschlag. Der zwischen Angst und Hoffnung schwebenden Seele (Oboe d’amore) bleibt nur ein Trost: "Meinen Jesum lass ich nicht". In Satz 4 (Rezitativ) wird die Verlustangst erneut thematisiert. Bach öffnet die Himmelsperspektive (aufsteigende Tirata-Figur) und wandelt die Mutter-Kind-Symbiose (Maria-Jesus) zur unio mystica ("ewig ... umfangen"). Die Kantate schliesst als bewegter vierstimmiger Chorsatz mit dem 6. und letzten Vers des Eingangschorales und wiederholt als Conclusio das Motto der ganzen Kantate: "Meinen Jesum lass ich nicht."

Jörg-Andreas Bötticher

 

Rembrandt van Rijn, 1638:
Christus unter den Schriftgelehrten
Radierung, 110 x 84 mm.