Bachkantaten in der Predigerkirche
 

Die beiden Kantaten BWV 115 und 55 sind für den 22. Sonntag nach Trinitatis bestimmt. Ihre Texte kreisen mit besonderer Eindringlichkeit um die unausrottbare Schuld des Christenmenschen Gott und Gottes Gnadenakt gegenüber, den der Mensch demütig und mit weit geöffneten „Geistesaugen“ anzunehmen angehalten wird. Diese Thematik passt zur zugehörigen Perikope, dem Gleichnis vom „Schalksknecht“ (Matthäus 18, 23-35): Auf die Frage des Petrus, ob es genug sei, einem Menschen, der sich gegen ihn vergangen habe, sieben Mal zu vergeben, antwortet Jesus. „Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzig mal siebenmal“, worauf er – nicht durchweg konsequent – dieses Votum mit dem Gleichnis von einem Knecht untermauert, der seinen König um eine erhebliche Silbersumme betrogen hat. Der Herr will ihn bestrafen, lässt sich aber durch das Flehen des Knechtes umstimmen und erlässt ihm Schuld und Strafe. Als dieser bald darauf von einem Mitknecht gebeten wird, ihm seinerseits eine Schuld zu stunden, drangsaliert er diesen und lässt ihn ins Gefängnis werfen. Als der Herr davon hört, wird er zornig und lässt ihn bestrafen. Die Moral des Evangelientextes: Gott vergibt zwar siebzig mal siebenmal, aber derjenige, der sich hartherzig der Not seiner Mitmenschen entzieht, kann auf keine Gnade hoffen.  Und so ist es stimmig, dass beide Kantatentexte um Sünde, Strafe, Zerknirschung und Hoffnung auf Gnade kreisen.

 

„Mache dich, mein Geist, bereit“, BWV 115

BWV 115 liegt das Kirchenlied „Mache dich, mein Geist, bereit“ zugrunde, das der Dresdner Jurist Johann Burchard Freystein 1695 im Druck hatte erscheinen lassen. Die erste und die letzte Strophe übernahm der unbekannte Textdichter wörtlich, mit der Anfangszeile von Satz 4 (der Sopran-Arie), „Bete aber auch dabei mitten in dem Wachen“, zitierte er den Beginn der dritten Strophe, und in Satz 2, 3 und 4 (Arie und zwei Rezitative), in denen es ums Wachen und Beten angesichts der Tücke des Teufels geht, paraphrasierte er die verbleibenden Strophen sinnentsprechend.
Bach schrieb diese Kantate zum 5. November des Jahres 1724. Sie gehört mithin dem zweiten Kantatenjahrgang an, und sie folgt der hier von Bach favorisierten Form der Choralkantate. Im Eingangschor wird der Choral, der der Melodie des Kirchenliedes „Straf mich nicht in Deinem Zorn“ folgt, vom Sopran ausgeführt. Dies geschieht in klarer, eingängiger Artikulation, wobei die Diskantstimme von den übrigen Stimmen teils kontrapunktisch, teils homophon begleitet wird. Im Eingangsritornell geben die erste und die zweite Violine in unisonem Spiel das markante, durch einen Sprung in die Unteroktave bestimmte Thema vor, woraufhin Solotraverso und Solovioline das musikalische Geschehen in figurativem Konzertieren bestimmen. In dieses Gefüge sind die einzelnen Choralzeilen eingebettet, bis nach den Worten „denn es ist Satans List“ die beiden Bläser sich gleichfalls zu unisonem Vortrag vereinen. Der Satz schließt mit der Wiederaufnahme  der Anfangsthematik, nun aber von Bläsern und Streichern gemeinsam in reicherer Klangfülle gestaltetet.
In der folgenden Arie besingen der Alt zusammen mit der teilweise unisono geführten ersten Violine und der Solooboe die „schläfrige Seele“, die angesichts des drohenden „ewigen Todes“ zur Ermunterung aufgerufen wird, dies freilich in langsamem Tempo (Adagio), in wiegendem 3/8-Takt (Siciliano) und mit reicher Verwendung von Haltetönen: ein Schlummerlied, dass nur in einem kurzen Allegro-Mittelteil zu den Worten „es möchte die Strafe dich plötzlich erwecken“ mit schnellen, homophonen Sechzehntel-Läufen zur angsterregenden Drohgebärde mutiert. In einem kurzen Secco-Rezitativ warnt der Bass vor weltlichen Freuden und leitet über zu der Arie „Bete aber auch dabei mitten in dem Wachen“. Dieser Appell ist mit großer Eindringlichkeit gestaltet, wofür das langsame Tempo (Molto adagio) und eine sehr besondere Instrumentenkombination sorgen. Das in Tenorlage angesiedelte Violoncello piccolo konzertiert mit der hohen Traversflöte und dem Sopran, abgestützt nur vom Basso continuo. Hier schweigen die Geigen, und das Ergebnis ist ein ebenso durchsichtiges wie dichtes kontrapunktisches Satzgeflecht, das in seiner ungewöhnlichen Klanglichkeit aus einer ferneren Welt zu kommen scheint.
Daraufhin besingt der Tenor rezitativisch Gottes Gnade und feiert den rettenden Messias mit einem kurzen Arioso. Im ebenso schlichten wie eindringlichen Schlusschoral wird der  zu Beginn vorgetragene Inhalt nochmals zusammengefasst: Zur Melodie des Liedes „Straf mich nicht in deinem Zorn“ wird die Gemeinde ein weiteres Mal zum „Wachen, Flehen, Beten“ aufgefordert.

 

„Ich armer Mensch, ich Sündenknecht“, BWV 55

Zwei Jahre nach der Aufführung der Kantate „Mache dich, mein Geist, bereit“ führte Bach am 17. November 1726 die Kantate „Ich armer Mensch, ich Sündenknecht“ auf. Er hatte sich in seinem dritten Kantatenjahrgang (1725-1727) von der im zweiten Jahrgang gepflegten Form der Choralkantate zugunsten der Solokantate abgewandt, und  auch BWV 55 folgt diesem Schema:  Zwei Arien und zwei Rezitative sind dem Solotenor anvertraut, der Chor wird lediglich zur Ausführung des Schlusschorals benötigt.
Der unbekannte Textdichter greift insofern auf die Perikope – das Gleichnis vom Schalksknecht – zurück, als er aus ihm, dem Schalksknecht, einen „Sündenknecht“ macht, wobei der Solotenor im ersten und zweiten Satz die unausweichliche Schuld des von der Sünde Geknechteten und die Aussichtslosigkeit beklagt, am Jüngsten Tag vor Gottes Gericht bestehen zu können. In Satz 3 wird Gott dann doch um Erbarmen angefleht, und in Satz 4 siegt die Gewissheit, dass auf Gottes Gnade gezählt werden darf.   Der Schlusschoral – die fünfte Strohe aus Johann Schops Kirchenlied „Werde munter, mein Gemüte“ von 1642 – stellt dann nochmals den Bezug zwischen Schuld und Gnade in den Mittelpunkt: „Aber deine Gnad und Huld ist viel größer als die Sünde […]“.
Die Eingangsarie wird von einem musikalisch wirkungsvollen Kontrast bestimmt: Zum einen konzertieren die gegenüber den Violinen dominierenden Blasinstrumente  Solotraverso und Solooboe in wiegendem 6/8-Takt sowie klanglich vielerorts in parallel geführten Terzen und Sechsten, womit sie zunächst eine eher pastorale Stimmung entstehen lassen. Zum anderen setzt der einsam die hier sehr hoch liegende Tenorlage vertretende Sänger (die Viola pausiert) bei gleicher rhythmischer Diktion dadurch düstere Klangfarben, dass seine Stimme durch markante Aufwärts- und Abwärtssprünge und durch extreme chromatische Wendungen des in g-moll gehaltenen Stückes charakterisiert ist – z.B. die langgezogenen Passus duriusculi zu den Worten „Furcht und Zittern“ oder „ich armer Mensch“ in der Schlussgestaltung vor dem Da Capo. Vielleicht waren es solche Beobachtungen, die Alfred Dürr die Vermutung äußern ließen, hier werde die „Vorstellung des sich windenden Sünders“ hervorgerufen.
Das nachfolgende Secco-Rezitativ verlangt dem Tenor über dem Wort „Gott“ – einem zornigen, unerreichbaren Gott, „der mir das Urteil spricht“ - den Spitzenton b’ ab und leitet damit zu der zweiten, in d-moll stehenden Arie „Erbarme dich!“ über. Hier öffnet die Traversflöte mit ihrem synkopenreichen, in unendlichen chromatischen Wendungen sich bewegendem Sechzehntel- und Zweiunddreißigstel-Passagenwerk den emotionalen Raum für die Hoffnung auf Gnade, in den der Sänger mit einem Sextsprung  – das Intervall der Liebe und Vergebung – einstimmt. Das nachfolgende Rezitativ ist eingebettet in einen nun in B-Dur gehaltenen Streichersatz, der mit seinen luftigen Haltetönen den Sänger wie zwischen Himmel und Erde schweben lässt. Der Schlusschoral beendet schließlich diese Reise, die  von dunkelster Verzweiflung zu Glaube und Hoffnung führt, mit schlichter Diktion aufs Überzeugendste: „Bin ich gleich von dir gewichen, stell ich mich doch wieder ein“ -  der Sünder bleibt angesichts seiner Schuld nicht in stagnierender Verzweiflung stecken, sondern er hat seinen Glauben an die göttliche Gnade wiedergefunden.

Dagmar Hoffmann-Axthelm