Einführung zu den Kantaten vom 10. Oktober 2004

In der Regel verwendete Bach für alle seine Kantaten in der Leipziger Thomaskirche die grosse Orgel, die Sänger und Musiker auf der Empore versammelnd, dazu noch ein Cembalo auf einem leicht erhöhten Podest. Ausgehend von diesen räumlichen Bedingungen – die heute wegen Platz- und Stimmungsproblemen leider nur selten so nachgestellt werden können – ergeben sich in der Regel ganz andere klangliche Verhältnisse: Die Orgel hält mit ihren Grundregistern den ganzen Ensembleklang zusammen. Sie dominiert ihn nicht, hat aber die Möglichkeit, unter Verwendung des Pedales und der tiefen 16’-Register den Gesamtklang gravitätisch abzustützen. Darüberhinaus kann der Organist obligate Partien übernehmen und dennoch die Continuoaussetzung nicht vernachlässigen. Dies setzt voraus, dass die Basslinie wo möglich mit dem Pedal, die Akkorde mit der linken Hand und die Solostimme auf einem anderen Manual mit der rechten Hand gespielt wird, was wir in der heutigen Aufführung mit der Kantate 170 versuchen.

Die Kantate "Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust" (BWV 170) ist zwar nicht für den 18. Sonntag nach Trinitatis bestimmt, fügt sich aber als eine im gleichen Jahr wie BWV 169 entstandene (für den 28.7.) und vielleicht auch für den gleichen Sänger bestimmte Altsolokantate gut zu dem im heutigen Konzert nachfolgenden Werk Bachs. Es handelt sich ausserdem – abgesehen von einer einzelnen Arie in der Johannespassion – um die erste Kantate in Bachs Leipziger Zeit, bei der er die Orgel als obligates Instrument miteinbezog. Auch inhaltlich besteht eine Verbindung zwischen 169 und 170, geht es doch in beiden Texten um die himmlischen Kräfte, die uns im Trubel der Welt allein Ruhe verschaffen können. Die Liebe nimmt dabei eine Schlüsselposition ein.
Die aus fünf Sätzen bestehende Kantate BWV 170 – gedichtet von Georg Christian Lehms 1711 - kann in ihrem Aufbau einer klassischen Rede verglichen werden: Nach einem Exordium (Eingang), das in einem sanft wiegenden, angenehmen 12/8-Takt gleichsam einen Vorgeschmack der himmlischen Ruhe gibt, schildert ein Rezitativ als Narratio (Bericht) in drastischen Bildern, wieweit der Mensch sich von Gott entfernt hat. Im dritten Satz, der Propositio wird das eigentliche Thema formuliert. Dieser Satz ist von mehreren Seiten her bemerkenswert: Zum einen formuliert der Textdichter in der ersten Person und verschmilzt so die Rolle des Menschen mit der des leidenden Christus. Zum andern wendet Bach einen im Barock sehr seltenen und deshalb umso eindrücklicheren Kunstgriff an: Er verzichtet auf den üblichen Basso Continuo und weist den Streichern unisono eine karge hohe Basslinie zu. Die das Fundament entbehrende Halt- und Orientierungslosigkeit wird so ohrenfällig.
Zum dritten schreibt Bach zwei auf verschiedenen Manualen (und deshalb auch nicht mit einem Positiv) zu spielende obligate Orgelstimmen. Ausserdem ist dieser ‚Quartettsatz’ voll von rhetorischen, klangmalerischen Figuren, wie z.B. dichte Chromatik, ‚lachende’ Zweiunddreissigstel, auffällige dreifache Wiederholungen von Motiven und aussergewöhnliche melodische Sprünge ("Satansränken"). Das folgende Accompagnato-Rezitativ zeigt als Confirmatio/Confutatio (Bekräftigung/ Abwehr möglicher Einwände) eine von Gottes Liebe herbeigeführte Situationswende. Der letzte grossangelegte Da Capo-Satz bringt die Conclusio ("drum nimm mich Jesus hin"), die man wohl als barocke Weltflucht interpretieren kann. Bach beginnt den Satz auf das Wort "ekelt" mit einer Tritonusfigur (diabolus in musica), die paradoxerweise geradezu lustvoll daherkommt und zeigt, dass die barocke Sinnlichkeit und Weltlust keinesfalls verneint wird. Musikalisch gesprochen kann die Harmonie umso schöner wahrgenommen werden, wenn sie in einem spannungsvollen Wechsel von Konsonanzen und Dissonanzen lebt. Per aspera ad astra – auf rauhen Wegen zu den Sternen. Vermutlich greift diese Deutung aber immer noch zu kurz. Ganz in der Tradition der christlichen Mystiker, deren Bücher Bach grösstenteils in seiner Bibliothek hatte, zeichnet er in seinem Lebenswerk den Himmel nicht als eine ausserhalb des Menschen gelegene Sphäre, sondern als durch Christi Gnade vermittelte Einsicht im Hier und Jetzt. In den Worten von Angelus Silesius (1675):

Halt an, wo laufstu hin,
der Himmel ist in dir;
Suchstu Gott anderswo,
du fehlst ihn für und für.

Am 18. Sonntag nach Trinitatis wurde als Evangelium Matthäus 22, 34-46 verlesen. Es ist die Frage des Schriftgelehrten nach dem vornehmsten Gebot, die Jesus mit dem Hinweis auf die Gottes- und Nächstenliebe beantwortet. Im zweiten Teil des Textes geht es um Christus, der Davids Sohn und Davids Herr genannt wird.
J.S. Bach bezieht sich in seiner für den 20. Oktober 1726 geschriebenen Kantate "Gott soll allein mein Herze haben" (BWV 169) auf den ersten Abschnitt der Evangeliumslesung. Der unbekannte Textdichter beschreibt in den Sätzen zwei bis fünf die Liebe zu Gott, als dem höchsten Gut. Im anschliessenden Rezitativ und Schlusschoral (M. Luther) wird der Blick zum Nächsten geöffnet.
Bach komponiert die ganze Kantate als Altsolokantate, zum einen sicher deshalb, weil er in diesen Wochen gerade einen äusserst fähigen Altisten zur Hand gehabt hat, zum anderen wohl auch deshalb, weil die Altstimme (wie auch der Sopran) in vielen seiner Kantaten die gläubige Seele verkörpert. Auf diese Weise wird die Stimmwahl schon zu einer ersten Verdeutlichung des Inhaltes: Der Alt spricht stellvertretend für die zwischen der Verführung der Welt und der Gottesliebe ausgespannte Seele eines jeden Menschen.
Die Kantate beginnt mit einer grandiosen Sinfonia mit konzertanter Orgel. Die grosse Besetzung mit Streichern, drei Bläsern, Basso Continuo und Organo obligato und die Da Capo Form unterstreichen die Festlichkeit und zentrale Bedeutung des Bibelwortes. Die Orgel hat besonders in der Sinfonia alle Hände voll zu tun, sodass keine Möglichkeit mehr besteht, auch noch die notwendigen Continuo-Akkorde zu realisieren. Wohl deshalb hat Bach in Ergänzung zum Orgelpart eine separate Basso Continuo-Stimme im Kammerton geschrieben und auch beziffert, die dann auf dem Cembalo gespielt wurde. Es ist unklar, ob Bach den Einleitungssatz, den er später (um 1738) zusammen mit dem fünften Satz als Cembalokonzert in E-Dur umgearbeitet hat, aus einem bereits bestehenden (und heute verschollenen?) Instrumentalkonzert genommen oder neu komponiert hat.
Auch für den kleinbesetzten dritten Satz verwendet Bach die obligate Orgel. Meisterhaft ist die Vertonung des fünften Satzes "Stirb in mir, Welt": Auf dem Hintergrund eines ruhigen Siciliano-Streichersatzes mit fast ostinatohaft nachschlagenden Bassoktaven, die den Hörer in einen ungewissen Schwebezustand bringen, entwickelt Bach eine äusserst ausdrucksvolle Melodik der Altsolostimme. Als wäre das nicht schon genug setzt er noch eine obligate Orgelstimme dazu, die bisweilen die Altstimme verdoppelt, umspielt, oktaviert und so die inneren Spannungen des Seelenlebens umso stärker zum Ausdruck bringt. 

Jörg-Andreas Bötticher