BWV 78  
Jesu, der du meine Seele  

BWV 164  
Ihr, die ihr euch von Christo nennet

 
 

Entstanden zum 14. Sonntag nach Trinitatis 1724 und damit Teil des „Choralkantaten“-Jahrgangs, gehört die Kantate „Jesu, der du meine Seele“ BWV 78 zu den faszinierendsten Schöpfungen innerhalb des Bachschen Kantatenoeuvres. Im Rahmen von nur sieben Sätzen und unter Rückgriff auf eine mit vier Singstimmen, 2 Oboen, Traversflöte, Streichern und mitlaufendem Horn keineswegs opulente Besetzung hat der Thomaskantor eine selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich reichhaltige Synthese verschiedenster Satztraditionen und Stilidiome vorgelegt. Die Kantate beginnt mit einem Eingangschor, der auf geniale Weise drei konträre Satztypen und Gattungstraditionen verbindet. In erster Linie die Form einer zeilenweise durchgeführten Choralmotette für Singstimmen, wie sie für die Liedkantaten dieses Jahrgangs konstitutiv ist. Während Bach für die meisten dieser Choralchöre jedoch ein Orchesterritornell konzipiert hat, das motivisch oder affektmäßig aus dem Choral heraus entwickelt ist, hat er in diesem Fall mit der Wiederholungsstruktur einer Passacaglia über ein absteigendes Baßthema eine der Liedsubstanz gegenüber zunächst autonome Form gewählt. Allerdings hat der vorausschauende Komponist seinen Paasacaglienbaß so geschickt entworfen, dass er entweder im originalen g-Moll oder in nach B- und F-Dur transponierter Form sämtliche Zeilen des cantus firmus begleiten kann. Dadurch gelingt es, Ostinato-Ritornell und Choraldurchlauf nicht als unverbundene Passagen jeweils nacheinander ablaufen zu lassen, sondern das die Vorimitationen des Chores krönende Erklingen der Choralzeile im Sopran jeweils mit der haltgebenden Wiederkehr des Passacaglienthemas zu verbinden. Melodische und strukturelle Höhepunkte wie auch geistliche und artifizielle Dimension fallen somit in eins – die auf den ersten Blick disparaten Materialschichten des Satzes erweisen sich als intensiv aufeinander bezogen. In Gestalt eines im Fortgang stetig präsenter werdenden daktylischen Orchestermotivs sowie in der zuweilen rasanten Interaktion der einzelnen Instrumentalstimmen tritt neben Choralmotette und Passacaglia schließlich die Konzertform als dritte Determinante der Komposition in Erscheinung. Wie es Bach dabei gelingt, die Motive und Bestandteile zwischen den verschiedenen Orchestergruppen (Streicher, Oboen) immer wieder zu vertauschen und einschließlich des chromatischen Ostinato sogar umzukehren, wie er in das Korsett der baßgebundenen Instrumentalperioden einen stets abwechslungsreichen und dabei wunderbar sprachbezogenen Vokalsatz einzufügen weiß, ist von größter Kunsthaftigkeit. Zweifellos lassen sich für all diese Satzebenen mehr oder weniger konkrete Vorbilder ausmachen. So war die Choralmotette in einem konzertant gemilderten Kontrapunktstil bereits in den Werken der Bachschen Familienüberlieferung vorgeprägt, ein auf das 17. Jahrhundert zurückweisendes Erbe, dem Bach in der altertümlich abbildenden Umsetzung der Zeile „kräftiglich herausgerissen“ unüberhörbar seine Reverenz erwiesen hat. Und selbst die Technik der Umkehrung eines Passacaglienbasses ist von älteren Meistern wie etwa Johann Caspar Ferdinand Fischer nachweislich benutzt worden. Neu am Bachschen Herangehen ist hingegen neben der unerreichten kompositorischen Meisterschaft die konsequente Ineinssetzung dieser an sich konträren Satzdimensionen, mit der der Komponist in einem durchaus „klassischen“ Sinne zu einer zukunftsweisenden Verschmelzung der gesamten zur Verfügung stehenden Kompositionstraditionen und -techniken gelangt.

Nach dem kontrapunktisch-konstruktiven Kraftakt des Eingangschores hat Bach mit dem Duett „Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten“ einen kalkulierten Stilbruch gewagt. Wie sehr seine Tonsprache hier in den Bereich einer nahezu entwaffnenden Volkstümlichkeit vorgedrungen ist, lässt sich an der überraschten Reaktion selbst erfahrener Bachkenner beim erstmaligen Anhören dieses Satzes stets aufs neue ermessen. Über einem beschwingten und unermüdlich pulsierenden Continuofundament, das Bach in einer späteren Aufführung durch die Hinzunahme eines gezupften Violone noch weiter profiliert hat, überbieten sich die beiden Singstimmen Sopran und Alt in einem zugleich virtuosen wie einschmeichelnden Zwiegesang, dessen beträchtliche imitatorische Durchformung hinter dem zugänglichen Klangeindruck völlig zurücktritt. Der Satz ist ganz vom Gedanken des barmherzigen Eilens geprägt; zugleich scheint er nach den Passionstönen des christusbezogenen Eingangschores den Blick in das schlichtere Menschengemüt zu eröffnen.

Daß ebendieser Mensch trotz allen Bemühens aus eigener Kraft keine Hilfe finden kann, macht das folgende Tenorrezitativ schlagartig deutlich: Es bedarf zunächst der Zerknirschung des Herzens und der Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit, die in die demütige Bitte um Vergebung münden. Über schwer lastenden Basstönen hat Bach dazu eine vokale Kantilene komponiert, die wohl nicht zufällig den Reueauftritten des Petrus in seinen Passionen verblüffend ähnelt. In der folgenden Arie setzt Bach den Leitgedanken der „Erleichterung“ in sensibler Weise um, wozu der Wechsel von dunklen Baßtremoli zum zarten Pizzicato im Continuo wesentlich beiträgt. Die heroisch aufstrebende Geste des Soloinstrumentes scheint dabei zunächst dem flüchtigen Klang der Traversflöte und der verschatteten Tonart g-Moll zu widersprechen. Doch hat Bach damit exakt das Gefühl einer Befreiung und Stärkung komponiert, die nicht aus eigenem Verdienst erfolgt. Die über einem durchlässigen Baßfundament ausgespannte tastende Flötenstimme wirkt dabei wie die am letzten Sündfluttag ausgesandte Taube, die das Verstummen der Wetter im weiten Flug erkundet.

Das in ein warmes Streichergewand und die trinitarische Tonart Es-Dur gekleidete Baßrezitativ entfaltet dagegen eine eher priesterliche Geste: aus dem subjektiven Bußgespräch wird eine zeremoniell-dogmatische Aussage, aus der Hoffnung Gewissheit im Vertrauen auf die Zusage der Schrift. Dabei wird im Akt einer Übertragung die eigene Schuld hörbar im bitteren Leiden des Heilands gebannt, das in einer von schmerzlichen Intervallen geprägten Vokallinie allenthalben aufscheint. Die bei Bach nahezu singuläre Vorschrift „Con ardore“ beschwört dabei nochmals die ganze Schärfe der eigentlich verdienten Gerichtsdrohung herauf. In einem harmonisch reichen Andante-Arioso findet schließlich die Vereinigung des glaubenden Herzens mit dem gekreuzigten Erlöser ihren musikalischen Ausdruck. Die noch immer von Seufzern schwere und allezeit stockende Singstimme wird dabei von einem expressiven Streichersatz förmlich getragen.

Gut lutherisch folgt aus dieser Rechtfertigung im Glauben nicht nur der Trost, sondern auch die Gewissheit, selbst in einer feindseligen Welt bestehen und wirken zu können. Die anschließende Baßarie „Nun du wirst mein Gewissen stillen“ weist daher einen zwar weiterhin ernsten, jedoch auch tänzerischen Duktus auf. Der Singstimme und dem nur blockhaft eingesetzten Streichorchester tritt dabei eine virtuos konzertierende Oboe gegenüber.

Daß beide Arien durchkomponiert sind und auch die Rezitative sich jeweils zu einem Arioso hin öffnen, hat über die großartige Musik hinaus strukturelle Gründe. Stücke dieser Art sind offenkundig nicht als um einen einzigen Affekt kreisende Kommentare zu verstehen, sondern sie treiben stationsweise eine Entwicklung voran, die die Kantate in ihrer Gesamtkonzeption als kleine Passion und als Abbild des lutherischen Abendmahlsverständnisses und Gottesdienstes erscheinen läßt. Der abschließende Choral bekräftigt diese Aussage und weitet sie – gewissermaßen vermittelt durch die in großer Höhe verdoppelnde Flötenstimme - als Zusage in die „süße Ewigkeit“ hinein.

Wie die übrigen noch in Familienbesitz verbliebenen Stimmensätze zu Bachs Choralkantaten von 1724/25 wurde auch das Aufführungsmaterial zu BWV 78 bereits im Jahr 1750 vom Leipziger Rat für die Thomasschule angekauft. Was zur finanziellen Unterstützung der Witwe Anna Magdalena Bach gedacht war, erwies sich dann überraschenderweise weiterhin als Grundlage für Aufführungen und Abschriften. So kam es nach Forschungen von Peter Wollny und Michael Maul 1755/56 während der Vakanz zwischen den Kantoraten von Gottlob Harrer und Johann Friedrich Doles zu einer Teilaufführung dieses Choralkantaten-Jahrganges, die auch „Jesu, der du meine Seele“ BWV 78 einschloß. Im Zusammenhang damit entstanden zahlreiche Bach-Abschriften von der Hand des verantwortlichen Chorpräfekten Carl Friedrich Barth und seines Kollegen Johann Christoph Penzel. Die in der Thomasschule verwahrten Musikalien wurden dann nach 1800 nochmals für Aufführungen des seinerzeitigen Kantors August Eberhard Müller herangezogen, die im zeitgenössischen Feuilleton soviel Beachtung fanden, dass sich selbst der Zürcher Musikverleger Hans Georg Nägeli davon heimlich Abschriften verschaffte. Einer Vermutung Peter Wollnys zufolge könnte auch eine heute in Göttingen verwahrte Abschrift der Kantate BWV 78 zum früheren Besitz des umtriebigen Sammlers, Verlegers und Musikschriftstellers Nägeli gehört haben.

 

BWV 164  
Ihr, die ihr euch von Christo nennet

Während nicht wenige von Bachs Weimarer Kantaten nach 1723 in Leipzig wiederaufgeführt und entsprechend bearbeitet wurden, lässt sich für „Ihr, die ihr euch von Christo nennet“ BWV 164, deren Partiturautograph auf 1725 zu datieren ist, bisher keine solche Urfassung nachweisen. Daher ist bis auf weiteres von einer Erstaufführung zumindest der uns vorliegenden Version am 13. Sonntag nach Trinitatis (26. August) 1725 in der Leipziger Stadtkirchenmusik auszugehen. Dabei entstammt die Textvorlage tatsächlich einer Sammlung des Weimarer Oberkonsistorial-Sekretärs und Hofbibliothekars Salomo Franck („Evangelisches Andachts-Opffer“, 1715), und auch Bachs Vertonung weist den für seine Weimarer Zeit typischen kammermusikalischen Zuschnitt auf.

Dies beginnt bereits mit dem Verzicht auf einen einleitenden großen Ensemblesatz, der aufgrund des Fehlens eines tuttifähigen Dictums in Francks Dichtung auch keineswegs nahegelegen hätte. Vielmehr beginnt die Kantate mit einer allein streicherbegleiteten Tenorarie, deren sanft fließender 9/8-Takt im deutlichen Kontrast zur ernsten Tonart (g-Moll) und zum erregten Gestus der Singstimme zu stehen scheint. Indem die konkrete kompositorische Ausgestaltung dem zugrundeliegenden Satztyp offen widerspricht, hat Bach das vom Libretto kritisierte Auseinanderklaffen von christlichem Verhaltensideal und tatsächlicher Lebenspraxis feinsinnig erfasst und umgesetzt. Das sowohl für die Singstimme als auch die Orchesterbegleitung verbindliche Kopfmotiv des Satzes ist dementsprechend zweigeteilt – einer abwärtsgerichteten Folge punktierter Vierteltöne, die wie ein auf den unbußfertigen Menschen gerichteter Zeigefinger wirkt, folgt eine zaghaft aufsteigende Achtelkette, in der man vielleicht das Bemühen um Besserung und die Bitte um himmlischen Beistand sehen mag. Martin Luthers Überzeugung, dass der Mensch zugleich Gerechter und Sünder sei, findet in Bachs Motivbehandlung insofern ihre Entsprechung, als bereits im ersten Takt beide Themenglieder nicht nacheinander, sondern simultan miteinander verknüpft erklingen (Violine I und Continuo). Mit dem lang ausgehaltenen Schlußton des Tenors, der die Unbeweglichkeit des „steinernen“ Herzens verkörpert, behält die pessimistischere Lesart dabei zunächst die Überhand.

Auf kontrastierende musikalische Mittel zum Ausdruck unterschiedlicher Sinnebenen setzt auch das folgende Baß-Rezitativ „Wir hören zwar, was selbst die Liebe spricht“. Ein Ariosoeinschub mit laufendem Continuobaß verkörpert hier Jesu in der Bergpredigt gültige Gestalt gewordenes Versprechen, Barmherzigkeit mit göttlicher Gnade zu vergelten. Die umrahmende Secco-Deklamation nimmt hingegen kein Blatt vor den Mund, um anhand bestürzend realistischer Beispiele darzustellen, wie leichtfertig sich selbst äußerlich fromme Christen von den Sorgen und Nöten ihrer Mitmenschen abwenden. Wer jedoch sein Herz nicht bei den Seufzern der Nächsten auftut, den wird auch Gott zu seiner Zeit nicht erhören und als ihm gleich anerkennen – das ist das Thema der gesamten Kantate und der folgenden Altarie („Nur durch Lieb und durch Erbarmen“) im Besonderen. Ihr Text stellt das Bild des barmherzigen Samariters in den Vordergrund, dessen Herz in mitfühlender Weise sich auch „fremden Schmerz schmerzen“ lässt. Bach hat dafür mit einem zarten Triosatz aus zwei Traversflöten und Continuo eine verinnerlichte Klangsprache gefunden, die den Übergang von der Strafdrohung zum gütigen Vorbild zum Ausdruck bringt. Hier und im folgenden Accompagnato wird eine für die protestantische Theologie der Zeit und gerade für Salomo Franck typische Akzentverschiebung greifbar. Nicht der Verstand allein soll durch gelehrte Argumente und predigtmäßige Beredsamkeit überzeugt werden, sondern es gilt, das Herz des Gläubigen zu erreichen und es durch den göttlichen „Liebesstrahl“ gleichsam zum „Schmelzen“ zu bringen. Musik und Gefühlssprache mobilisieren für dieses Unterfangen alle erreichbaren Mittel - im ausdrucksstarken Wechselspiel von Tenor und Streicherbegleitung vollzieht sich dabei in diesem Zentralsatz eine Art innerer Wandlung, die auch für den Fortgang der Kantate nicht ohne Konsequenzen bleibt. Deutlich wird dies in der folgenden Arie „Händen, die sich nicht verschließen“, die das g-Moll des Beginn aufgreift und die mit der Eingangsarie auch motivisch verwandt ist, die nun dennoch jedoch eine grundlegend veränderte Situation beschreibt. Die herzliche Zuwendung zum Nächsten wird dabei bereits durch die Duettbesetzung von Sopran und Baß ausgedrückt, die sich über den größtmöglichen Stimmabstand hinweg aufmerksam aufeinander beziehen. Zugleich arbeitet Bach nun jedoch nicht mehr mit der simultanen Kombination zweier kontrastierender Motivbestandteile, sondern mit der Umkehrung des Themenkopfes – wer bereitwillig gibt, dem wird im Gegenzug sichtbar gegeben. Daß sich mit beiden Violinen, Oboen und Flöten gleich sechs Instrumente zu einer einzigen Obligatpartie zusammenschließen, kann kaum anders denn als Sinnbild umfassender Einigkeit verstanden werden. Aus dem Zusammentreffen von christlicher Lehre und individuellem Verhalten resultieren innerweltliche Eintracht und seelische Glückseligkeit – ein starker, schöner Entwurf! Daß es dafür einer beträchtlichen Anstrengung bedarf, lässt sich nicht allein der kunstvollen Kanonstruktur des Satzes, sondern auch der unaufhörlichen Fortspinnung des thematischen Materials der Arie entnehmen, das stark concertohafte Züge aufweist und in ganz ähnlicher Form bereits den Eingangschor der Kantate „Was mein Gott will, das gscheh allzeit“ BWV 111 vom Januar 1725 prägte.

In der Paralleltonart B-Dur gehalten, beschließt ein schlichter Choralsatz über die fünfte Strophe von Elisabeth Creuzigers Lied „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ die Kantate. „Ertöd uns durch dein Güte, erweck uns durch dein Gnad“ – der von Bachs Librettisten gern verwendete und in seinem Kantatenoeuvre daher mindestens viermal als Schlußchoral herangezogene Liedtext paßt hier besonders gut. Sollen Güte und Barmherzigkeit allenthalben walten, so müsste an die Stelle des „alten Adam“ tatsächlich ein „neuer Mensch“ treten. Francks Kantatendichtung und Bachs Komposition erinnern in besonders eindrücklicher Weise daran, wie mühselig der Weg dahin ist und wohl auch bleibt.

                                                                                                            Anselm Hartinger