BWV 168  
Tue Rechnung! Donnerwort

BWV 94  
Was frag ich nach der Welt

 

Die Botschaft des Evangeliums des 9. Sonntag nach Trinitatis scheint klar: Der Herr wird von uns Rechenschaft fordern. Im Gleichnis vom ungetreuen Haushalter (Lk 16, 1–9) tadelt Jesus diesen jedoch nicht, sondern lobt ihn gewissermassen für seine Schlitzohrigkeit, oder freundlicher formuliert für seinen Erfindungsgeist und seine Energie, mit der er sich aus der Schlinge zu ziehen weiss. Auch die "Kinder der Lichts", also die Jünger Jesu sollten sich eine solche Klugheit zu eigen machen. In den Kantaten BWV 168 und 94 zeigt Bach uns in den Texten und Vertonungen völlig unterschiedliche Herangehensweisen an dieses Thema.

 

BWV 168
Tue Rechnung! Donnerwort

Besetzung: Soli: S T B, Coro: S A T B, Hautbois d'amour I/II, Violino I/II,
Viola, Continuo
Erstaufführung: 29. Juli 1725
Text: Salomo Franck 1715; 6: Bartholomäus Ringwaldt 1588
Anlass: 9. Sonntag nach Trinitatis

Die textliche Grundlage dieser Kantate finden wir bei Salomon Franck in dessen Sammlung "Evangelisches Andachts-Opffer" von 1715. Franck führt dem Leser drastisch vor Augen, in welch ausweglosen Situation sich der schuldbeladene Mensch befindet. Nur dank Jesu Opfertod sind wir "quittiert"; deshalb können wir uns von den Verführungen des Geldes lossagen und selbst wohltätig werden. In dieser Gewissheit werden Jesu Wunden zu unserem Heil, das über den Tod hinaus in Gottes Reich trägt.

Bach komponiert bereits im Eingangssatz (1), einer Arie für Bass, Streicher und Continuo ein dramatisches Feuerwerk, welches am 29. Juli 1725 erstmalig erklang. In Art einer Gigue zieht sich eine bedrohlich wirkende Kette von 16tel-Triolen fast pausenlos durch das ganze Stück. Als zweite Ebene erklingen in den Streichern Akkordbrechungen in einem punktierten Rhythmus; durch ihre Hartnäckigkeit und Unerbittlichkeit entwickeln sie einen aggressiven Gestus. Der Basssänger erhebt dreimal – jedes Mal etwas höher – mahnend den Zeigefinger: "Tue Rechnung", bevor er in die vom Orchester vorbereitete Figur des "Donnerwortes" einstimmt. Die oben beschriebenen Akkordbrechungen werden durch die Worte des Basses nun als zerspaltende Felsen erklärt: Gottes Forderung nach Rechenschaft greift tief in die Materie ein, und lässt sogar das Blut erkalten. An dieser Stelle lässt Bach die Bewegung mitten in einer Dissonanz zum abrupten Stillstand kommen. Stärker könnte man die Ausweglosigkeit kaum vertonen. Erneut hebt der Bass an zu mahnen und zu drohen, ohne hingegen tröstende Alternativen aufzuzeigen. Der Tenor versucht in einem langen Accompagnato-Rezitativ (2) für zwei Oboen d'amore und Continuo die Ermahnung des ersten Satzes konkret auf die eigene Person zu beziehen. Die Reflexion beginnt als Selbstgespräch und endet als flehentliches Gebet. Kurze und heftige Einwürfe der Instrumente illustrieren die Verzweiflung des Beters. Als ob die Situation nicht schon plastisch genug dargestellt wäre, folgt nun eine Arie (3) für die gleiche Besetzung, in der eine geradezu neutrale, realwirtschaftliche Sicht eingenommen wird ("Kapital und Interessen"). Allerdings ist die Buchführung Gottes nicht herkömmlich, sondern wird "mit Stahl und Demantstein" geführt, ein Inbegriff der ewigen Dauer. Erst das Bassrezitativ (4) bringt eine Wende ("Jedoch") und eröffnet von Jesu Liebestat her eine andere Perspektive auf den Begriff der Schuld. Nach drei schwerwiegenden Mollsätzen wendet sich dieses Rezitativ erstmals nach G-Dur ("In Himmelshütten sicher ruhn"). Sopran und Alt haben bisher geschwiegen. Im nun folgenden Duett (5) wenden sich die beiden Sänger an die innerste Herzenskraft des Menschen. Von dorther kann des "Mammons Kette", können – musikalisch übertragen – ihre kanonisch geführten Dissonanzketten zerrissen werden. Über einer absteigenden Basslinie entwickelt Bach ein viertaktiges Bassmotiv, welches einerseits das Zerreissen der Kette nachzeichnet (schnelle 32tel-Figuren, harte Septimsprünge), andererseits durch den wiegenden Rhythmus ein "sanftes Sterbebett" evoziert. Indem Bach das Bassmotiv ostinat einsetzt, wird nicht nur die Weite der Ewigkeit angedeutet, sondern auch der Weg dorthin. Die dahinterliegende theologische Aussage könnte also lauten: "Was immer du auf der Erde lösen wirst, wird in den Himmeln gelöst sein" (Mt 16,19). Aus eigenen Kräften kann dies nicht gelingen, deshalb richtet der vierstimmige Schlusschoral (6) den Blick auf Christi Leiden, woraus unser Heil entspringt. Ein versöhnlicher, wenn auch immer noch spannungsvoller H-Dur-Akkord schliesst diese äusserst demonstrativ-nachdenkliche Kantate.

 

BWV 94
Was frag ich nach der Welt

Besetzung: Soli: S A T B, Coro: S A T B, Traversa, Hautbois, Hautbois d'amour I/II, Violino I/II, Viola, Continuo
Erstaufführung: 6. August 1724
Text: 1, 3, 5, 7, 8: Balthasar Kindermann 1664; 2, 4, 6: Umdichtungen eines unbekannten Bearbeiters
Anlass: 9. Sonntag nach Trinitatis

Während in BWV 168 der in seiner Schuld verstrickte Mensch gezeigt und angeklagt wird, geht Bach in der zum 6. August 1724 entstandenen Choralkantate "Was frag ich nach der Welt" von einem Menschen aus, der bereits dem weltlichen Getümmel abgesagt hat. Aspekte der Welt sind ihre flüchtigen Schätze (1), ihre Vergänglichkeit (2), Ehre und Ruhm (3), ihre Reichtum und falscher Schein (4) oder ihre verführerische Kraft und Eitelkeit (6). Es ist äusserst spannend zu sehen, wie es Bach gelingt, durch die Kantate hindurch zum einen das barocke Welttheater darzustellen, und zum andern den Menschen in seiner relativen Verbundenheit oder eben seiner Unabhängigkeit, wenn dieser sich an Jesus hält. Dabei entsteht eine perzeptorische Schwierigkeit, auf die bereits Arnold Schering hingewiesen hat 1): Bachs Musik berührt uns in ihrer melodischen und harmonischen Kraft in einer Art, die wir gerne pauschal als wohltuend oder sogar tröstend apostrophieren. Wie kann nun die gleiche Musiksprache zur Darstellung negativer bzw. ethisch verwerflicher Affekte dienen? Müssen wir vielleicht lernen, Bachs Musik in ihrer Komplexität noch auf eine andere Art zu hören, sodass wir nach und nach sensibler werden, feine und womöglich mehrschichtige textlich-musikalische Zusammenhänge als solche zu erkennen? Dies ist nicht ein Plädoyer für die Intellektualisierung des Hörens, viel mehr eine Einladung, in die Bachsche Klangrede völlig einzutauchen und sich von den ihr innewohnenden Kräften und Entwicklungsprozessen ergreifen zu lassen.

Der Einleitungschor (1) ist eigentlich eine Choralmotette mit c.f. im Sopran, die Bach zu einem veritablen Concerto mit konzertierender Traversflöte ausgebaut hat. Dabei sind die flüchtigen Triolen und der unruhige Orchestersatz leicht als die Geschäftigkeit der Welt zu deuten, während der Vokalsatz die in Jesus gefundene Ruhe darstellt. Was allzu leicht als schematische schwarz-weiss-Charakterisierung wirken könnte, ist jedoch auf vielfältige Weise vernetzt. So entwickeln die Streicher ihre Ritornell-Motivik aus der ersten Choralzeile, und auch viele der virtuosen Flötendiminutionen können auf Choralzitate zurückgeführt werden.

Für die Sätze 2, 4 und 7 liegt eine aufführungspraktische Besonderheit vor, da die autographe Orgelstimme hierfür ausdrücklich tacet-Vermerke trägt. Möglicherweise wollte Bach (für eine bestimmte Aufführung?) tatsächlich auf die Begleitung durch die Orgel verzichten. Es gibt keine Hinweise, dass an deren Stelle ein Cembalo oder eine Laute eingesetzt worden wäre.

Viel Rauch um nichts entsteht in der folgenden Arie (2), einem Duett für Bass und Basso Continuo. Aus einer circulatio-Figur entwickelt Bach eine Basslinie, die wellenartig auf- und absteigt und den "Rauch und Schatten" der Welt abbildet. Kunstvoll verwebt Bach die melodischen Figuren des Basssängers mit dem Continuo mittels Umkehrungen und kleinen Imitationen. Dieses Schattengebilde besteht nur kurze Zeit, feste Orientierungen lassen sich nicht ausmachen, so endet dieser Satz mit dem Motto des Choral: "Was frag ich nach der Welt". Zwei Oboen d'amore schlagen einen lieblicheren Ton an (3): Graziös karikieren sie ein Menuett mit einschmeichelnden Figuren als Symbol einer höfisch-verlogenen Gesellschaft und der Tenor singt: "Die Welt sucht Ehr und Ruhm bei hocherhabnen Leuten". Diese Suche führt jedoch in die Leere, die Bewegung bricht ab. Bach changiert im Folgenden zwischen Recitativo accompagnato und Arioso. Im Laufe des Satzes werden die Menuett-Figuren allerdings positiv gefüllt ("Jesus allein"). Auch dieser Satz schliesst mit dem bekannten Motto und einem allzu kurzen Nachspiel der beiden Oboen, den man gerne noch länger zuhören würde. Eine besondere Stellung in dieser Kantate nimmt der Satz "Betörte Welt" ein (4). Er beginnt wie eine Solosonate für Flöte mit Continuo zu denen sich der Alt als dritte Stimme gesellt. Das Vorspiel ist melodisch und harmonisch bereits so dicht, dass man sich kaum eine Erweiterung auf drei Stimmen vorstellen kann. Tritoni und andere unmelodische Sprünge sowie harmonische Irreführungen weisen auf den Affekt des Betrugs und falschen Schein; rasende 32tel-Figuren in der Flöte betören durch eine sinnentleerte Virtuosität. Häufige von Bach verlangte Tempowechsel deuten die Übergänge zwischen den verschiedenen Affekten an. Besonders eindrücklich ist der ins adagio gesetzte doppelte Ausruf "Jesus, Jesus soll allein". Nun erklingen wiederum Flötenkoloraturen; in der Ausrichtung auf Christus erscheinen sie dagegen sinn-erfüllt. Dies ist eine der grossen Herausforderungen beim Musizieren (nicht nur) von Bachkantaten: Die Noten wollen durch unsere Sinnerkenntnis ihren jeweiligen Sinn erhalten. Wie Satz 3 wechselt auch das folgende Rezitativ (5) zwischen ariosen und freien rezitativischen Abschnitten. Dabei führen jene jeweils eine Choralzeile (Strophe 5), begleitet von einem schmerzvoll-chromatischen Bass.

Die nächste Arie, eine Pastoralgigue (Satz 6) für Tenor, Streicher und Continuo, führt uns auf verführerische Art die "Lust und Freud" der Welt vor Ohren. Auch hier wird – wie in der Flötenarie – der eitle Verführungsaspekt durch extreme Tenorkoloraturen noch erhöht.

Die Textpassage "sie wühlt, nur gelben Kot zu finden, gleich einem Maulwurf in den Gründen" ist nicht auf Anhieb zu verstehen. Denkbar ist, dass ‚gelber Kot' vulgär für Goldklumpen gemeint ist, und im übertragenen Sinn als Geldgier zu sehen ist. Ein weiteres Trio (7) für Sopran, Oboe d'amore und Continuo ist in seinem Affekt nicht leicht zu bestimmen. Auf der textlichen Ebene ist die Aussage klar: Ich will nur Jesus lieben und wende mich daher von der "blinden Welt", von der "ekligen Erde" ab. Die Komposition ist aber in die Form einer Bourée gekleidet, von der Mattheson 1739 schreibt, dass "ihr eigentliches Abzeichen auf der Zufriedenheit und einem gefälligen Wesen beruhe, dabey gleichsam etwas unbekümmertes oder gelassenes, ein wenig nachlässiges, gemächliches und doch nichts unangenehmes vermacht"2) sei. Wo die Wahl der "frechen Bourée" (A. Schering) als Form eine gewisse weltliche Gewandtheit darstellt, zeigt die Wahl der Tonart (fis-Moll) aber einen gegenteiligen Affekt: "es hat sonst dieser Tohn etwas abandonirtes [Verlorenes] / singulieres [Einsames] und misanthropisches [den Menschen Abgewandtes] an sich."3)   Solche musikalischen Paradoxa aufzuzeigen war auch zur Bachzeit üblich und könnte dazu dienen, etwaige simplifizierende Vorstellungen von klaren und einheitlichen Musik-Text-Beziehungen zu hinterfragen.4) In seiner Aussage eindeutig ist hingegen der Schluss der Kantate (8), ein vierstimmiger Choral mit den letzten beiden Strophen des Chorals "Was frag ich nach der Welt".

Jörg-Andreas Bötticher

 

1) Arnold Schering, Kleine Bachstudien, in: Bach-Jahrbuch 1933, S. 66–70.
2) Johann Mattheson, Der vollkommener Capellmeister, Hamburg 1739, S. 226.
3) Johann Mattheson, Das Neu-eröffnete Orchester, Hamburg 1713, S. 251.
4) Andreas Werckmeister, Musicalische Paradoxal-Discourse, Quedlinburg 1707.