13. Juni 2004
 
 

BWV 39
Brich den Hungrigen dein Brot

Die Kantate „Brich den Hungrigen dein Brot“ stammt aus dem dritten Kantatenjahrgang – Bach schrieb sie für den 23. Juni 1726, den ersten Sonntag nach Trinitatis. Der zugehörige Evangeliumstext erzählt das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus (Lucas 16, 19): Der reiche Mann tafelt prächtig und in Freuden, während der arme Lazarus krank und elend versucht, ein paar Brosamen von des Herren Tische zu ergattern. Die Antwort auf diese Situation der Ungerechtigkeit lässt nicht lange auf sich warten, denn nach beider Tod legen die Engel den Armen in Abrahams Schoß, während sich der Reiche im Höllenfeuer wiederfindet und vergeblich um Gnade fleht. Die Geschichte dient der Auslegung des zuvor von Jesus gelehrten Kernsatzes „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“.

Der unbekannte Librettist stellt in seinem Text die Überlegung in den Mittelpunkt, dass der Christ in Gott das überwältigende Vorbild einer gnädigen Macht hat, die im Überfluss gibt und dabei auch die Armen nicht vergisst. So solle auch der Christ handeln – die Begüterten sollen ihre Habe mit den Bedürftigen teilen, obwohl sie dadurch ihrem „Schöpfer nur im Schatten ähnlich werden“. Formal folgt der Text einem Schema, das in der Quelle, aus der er stammt - einer 1704 gedruckten Sammlung von Kantatentexten - vorgegeben ist: alttestamentliches Bibelwort – Rezitativ – Arie – neutestamentliches Bibelwort – Arie – Rezitativ – Choral.

„Brich den Hungrigen dein Brot“ gliedert sich in zwei Teile, zwischen denen die Predigt gehalten wurde. Das alttestamentliche Bibelwort der Kantate ist ein ausführliches Zitat aus dem Prophetenbuch Jesaja (58, 7-9), das Bach zu einem weiträumig angelegten Chorsatz veranlasst. Er lässt den Satz mit einem Instrumentalvorspiel beginnen, das bestimmt wird von auf- und abwärts geführten Achtelfiguren, die, beginnend mit dem Continuo-Bass und gefolgt von Blockflöten, Oboen und Streichern, klanglich das Element des Brotbrechens veranschaulichen. Mit dieser Struktur begleiten die Instrumente den homophon  einsetzenden Vokalsatz, der sich in einem nachfolgenden Abschnitt zu einer Fuge entwickelt, um schließlich diesen ersten Teil in der anfänglichen Setzart zu beenden. Mit den Worten „So du einen nackend siehst“ wird zu einem kurzen Mittelteil übergeleitet, und der abschließende dritte Teil beginnt mit einem Chorfugen-Einsatz, der seinerseits durch einen homophonen Abschnitt abgelöst wird. Der Satz endet mit einer abermaligen Fuge zu den Worten „Und die Herrlichkeit des Herrn wird dich zu sich nehmen“ mit einem Kulminationspunkt auf „Herrlichkeit“. Das folgende Rezitativ, in dem der Bass Gottes großzügige Spendefreude preist und die Gläubigen dazu auffordert, es ihm nachzutun, verläuft im schlichten secco-Stil und endet zu den Worten „… an das Herze dringen“ mit einem eintaktigen kleinen Arioso. Die den ersten Kantatenteil abschließende Arie verdichtet die Aufforderung, Gottes Vorbild zu folgen und dadurch einen „Vorschmack“ himmlischer Seligkeit zu erhaschen. Musikalisch konzertieren Solo-Oboe und Solovioline in imitatorischem Stil, dem in wechselvoller Melodieführung der dem Alt anvertraute Arientext eingepasst ist.

Das neutestamentliche Bibelwort, mit dem der zweiten Teil beginnt, ist dem Hebräerbrief entnommen (13, 16). Musikalisch ist es in wirkungsvollem Kontrast zum alttestamentlichen Bibelzitat gehalten: Dort die reiche vokal-instrumentale Faktur, in der jede Zeile individuell auskomponiert ist, hier ein Bass-Solo, lediglich mit den Continuo-Instrumenten imitatorisch konzertierend, aber in seiner Wirkung von großer Eindringlichkeit und Würde. Wie die Arie des ersten Teils, so kommt auch die Sopran-Arie „Höchster, was ich habe“ ohne Da Capo aus. Die beiden Blockflöten umspielen in ausschwingendem Unisono die kantabel geführte Gesangspartie, und diese Lieblichkeit wird im folgenden Rezitativ weitergeführt, indem sich die vom Alt gehaltene Zwiesprache mit Gott mittels Haltetönen der Streicher gleichsam in der Schwebe zwischen Himmel und Erde vollzieht. Ein Choral nach der Melodie des von Christoph Demantius (1567-1643) komponierten Kirchenliedes „Freu dich sehr, o meine Seele“ bildet den Schluss-Stein dieses eindrückliche Kantaten-Gewölbes.

 

BWV 184
Erwünschtes Freudenlicht

Pfingsten ist neben Weihnachten und Ostern das dritte hohe Fest des Kirchenjahres, an dem die Gläubigen nicht nur der Ausschüttung des Heiligen Geistes gedenken, sondern die Kirche auch ihren eigenen Geburtstag feiert. In Leipzig beging man dieses Fest an drei aufeinanderfolgenden Tagen, was für den Thomaskantor bedeutete, für jeden dieser Tage eine Kantate vorbereitet haben und diese zum aktuellen Datum aufführen zu müssen.  Vielleicht war es mit dieser extremen Arbeitsbelastung verbunden, dass Bach für den 30. Mai 1724, den dritten Pfingstfeiertag, auf eine Musik zurückgriff, die er bereits in Köthen für einen unbekannten weltlichen Anlass komponiert hatte. Wir wissen dies, weil sich zu der Kantate „Erwünschtes Freudenlicht“ Instrumentalstimmen erhalten haben, die zweifelsfrei in Bachs Köthener Zeit entstanden sind. Vokalstimmen, deren Text Hinweise auf den Anlass geben könnten, fehlen hingegen. In der Bachforschung denkt man an eine Geburtstagskantate für Fürst Leopold von Anhalt-Köthen oder an eine Neujahrsmusik.

Für eine Kirchenkantate eher ungewöhnlich, beginnt „Erwünschtes Freudenlicht“ mit einer wortreichen Textparodie, einem Rezitativ, das sich auf das dem dritten Pfingstfeiertag zugeordnete Evangelium – das Gleichnis vom guten Hirten – stützt (Johannes 10, 1-11) und in seiner Originalgestalt vielleicht einmal eine Lobeshymne auf Fürst Leopold war. Einen eigenen Charakter verleihen diesem Accompagnato-Rezitative auch die beiden Traversi, die immer wieder im Terzabstand ein aufwärtsgerichtetes Triolenmotiv interpolieren, das wohl das „erwünschte Freudenlicht“ lautmalerisch darstellen sollte. Diese Passage stammt vielleicht noch aus dem ursprünglichen weltlichen Text, denn der Parodietext nimmt keinen weiteren Bezug darauf, obwohl man das „Freudenlicht“ leicht zum Pfingstfeuer hätte uminterpretieren können.

Im folgenden Duett besingen Sopran und Alt in anmutigem ¾-Takt und in homophonem, meist in parallelen Terzen geführtem Satz die „glückselige Herde“ des Christenvolkes, begleitet von den beiden unisono gesetzten Traversi und der Solovioline, wobei die drei Instrumente auch um recht virtuose Vor- und Zwischenspiele besorgt sind. In einem Secco-Rezitativ fordert der Tenor die Herde zur Freude darüber auf, dass sie so trefflich von Gott und Christus beschützt wird, wobei das Rezitativ zu den Worten „vollkommene Himmelsfreude“ in ein reich verziertes Arioso mündet. In der folgenden Arie konzertieren Tenor und Solovioline in einem dicht gefügten polyphonen Satz miteinander, und dann folgt das einzige Stück, das neu für diese Kantate komponiert worden ist: der Choralsatz, der aber überraschenderweise die Kantate nicht beendet, sondern von einem weiteren Chorsatz gefolgt ist. Und auch der bietet eine Überraschung: Nach einem rhythmisch prägnanten viertaktigen Instrumentalvorspiel setzt der Chor mit einer gleichfalls viertaktigen Antwort ein, die wiederum von einem instrumentalen Intermedium  und einer entsprechenden chorischen Reaktion, beide nun auf acht Takte verdoppelt, beantwortet wird. Dann wird der Satz als Duett zwischen Sopran und Bass durchgeführt – wieder ein Hinweis auf die weltliche Textvorlage –, und schließlich endet die Kantate mit einem chorischen Da Capo.

 

Dagmar Hoffmann-Axthelm