Bachkantaten in der Predigerkirche
9. Mai 2004

 
 

Es ist euch gut, dass ich hingehe (BWV 108)

Nach zwei Jahren Tätigkeit in Leipzig konnte Johann Sebastian Bach sicher auf eine beträchtliche Erfahrung im Komponieren der sonntäglichen Kantaten zurückgreifen; trotzdem dürfte aber auch der Zwang, jeden Sonntag eine neue Kantate vorzulegen, spürbar gewesen sein. Nachdem er am 30. Mai 1723 seine erste Kantate überhaupt in Leipzig aufgeführt hatte („Die Elenden sollen essen“, BWV 75), fiel die erste Vertonung des Sonntags Cantate erst in das folgende Jahr („Wo gehest du hin?“, BWV 166). Am 29. April 1725 war es dann wieder soweit: Nachdem er im Jahr zuvor auf die Textzusammenstellung eines unbekannten Dichters zurückgegriffen hatte, war es dieses Mal ein Text der Leipziger Dichterin Christiane Mariane Ziegler, den diese später als „andächtiges Gedicht“ in ihrem Versuch in Gebundener Schreib-Art 1728 auch drucken liess. Wie Hans-Joachim Schulze bemerkte, könnte Bachs persönliche Bekanntschaft mit der Dichterin auf ein familiäres Ereignis zurückzuführen sein, wohnte Frau von Ziegler zu dieser Zeit doch in einem Haus, das der Taufpatin von Bachs 1725 geborenen Sohn Christian Gottlieb gehörte.

Passend zum Evangelium des Cantate-Sonntag geht es um das Versprechen Jesu an seine Jünger, den Heiligen Geist zu senden (den 'Tröster' bzw. den 'Geist der Wahrheit', wie es im Bibeltext heisst). Am Beginn steht ein direktes Zitat aus Johannes 16,7: „Es ist euch gut, dass ich hingehe; denn so ich nicht hingehe, kömmt der Tröster nicht zu euch. So ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.“ Ausgehend von diesem Versprechen Jesu vertieft die Dichterin in der Folge den zuversichtlichen Trost, der daraus zu schöpfen ist („Mich kann kein Zweifel stören, auf dein Wort, Herr, zu hören.“). Dieser Gedanke gilt auch noch für das anschliessende Rezitativ („Dein Geist wird mich also regieren“), das aber mit der bangen Frage schliesst: „Ach, ist er nicht schon hier?“ (In diesem Rezitativtext finden sich übrigens die grössten Abweichungen, d.h. Kürzungen und Straffungen, gegenüber dem 1728 gedruckten Text von Zieglers.) Die Antwort auf diese Frage gibt wiederum ein Jesu-Wort (aus Johannes 16,3, „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird“). Eine Arie („Was mein Herz von dir begehrt“) kann als Dank für diese wiederholte Weissagung verstanden werden, bis der abschliessende Choral, die 10. Strophe aus dem bekannten Lied von Paul Gerhardt („Gott Vater, sende deinen Geist“), den leitenden Gedanken der Kantate zusammenfasst: „Dein Geist, den Gott vom Himmel gibt“. Diese textliche Konsistenz, ja Geschlossenheit der Kantate ist sicher der Dichterin zu verdanken.

Ähnlich wie im Vorjahr setzte Bach zwei Solo-Instrumente ein: eine Oboe d'amore im ersten Satz und eine Solo-Violine im zweiten Satz. Auch in der Zuweisung des Jesuwort zu Beginn an eine Bass-Stimme, der traditionellen 'vox Christi', ergibt sich eine Übereinstimmung, wie überhaupt der jeweils ein gleicher bemerkenswerter musikalischer Aufwand für eine vergleichsweise kurze Kantate zu vermerken ist. Nach dem prominenten Einsatz der Oboe d'amore zu Beginn der Kantate setzt eine gleichsam 'gehende' Begleitung ein (mit der eindeutigen Anweisung für die Streicher, „sempre staccato“), das Thema des Gehens und Kommens illustrierend. Die im Gegensatz dazu im Legato und mit vielen Umspielungen geführte Oboenstimme könnte die Stimme des versprochenen Trösters vorstellen.

Auch im zweiten Satz, eine Arie für Tenor und Violine und Basso continuo, könnte die Begleitung eine textliche Begründung erfahren, hat diese doch fast durchgehend eine markante Figur zu spielen, die sich mit Sprung und anschliessender dreifacher Tonrepetition als ein nachdrückliches Bestätigen des verheissenen Trostes interpretieren liesse. Die Bedeutung der zentralen Textbegriffe „kein Zweifel“ und mehr noch „ich glaube“ wird durch lang ausgehaltene Töne unterstrichen, das mehrfach wiederholte „glaube“ jenes sogar noch überbietend, als erwüchse aus dem Fehlen eines Zweifelns der Glaube. Die gleiche Stimme übernimmt auch das folgende Rezitativ, zunächst die soeben in der Arie betonte Zuversicht mit einem „also“ bestätigend. Dieses kleine Wort „also“ aber wird mit einem wenig zuversichtlichen Aufwärtsschritt im Intervall einer unbequemen Septime vorgetragen und kündigt damit bereits die doch zweifelnde Frage am Ende an, deren harmonische Wendungen ihre Bedeutung nur noch unterstreichen: „Ach, ist er nicht schon hier?“

Das diese Zweifel beseitigende Bibelwort ist als fulminante Chorfuge gesetzt, wobei jede der drei Textabschnitte auch mit eigenen Fugenthemen agiert. Allerdings muss der Sinn der Worte bereits verstanden und gut bekannt sein, um sie in dieser musikalisch komplexen Umgebung wahrzunehmen. Die folgende Arie des Altus „Was mein Herz von dir begehrt“ ist ein freundlicher Satz im Dreier-Rhythmus (ein 6/8-Takt) und könnte mit den virtuosen 'Spielereien' der Violinen auch für einen langsamen Satz eines Instrumentalkonzertes dienen, wie Hans-Joachim Schulze beobachtete. In der Vokalstimme sind die überwuchernden Figuren zu „überschütte mich“ oder die Dehnung zu „Ewigkeit“ zu bemerken. 

Den Schluss bildet ein auffallend ausgearbeiteter Choralsatz. Ob man bei der Schlusszeile „als wo man findt den Segen“ mit einer gehäuften Chromatik an eine hintersinnige Textausdeutung denken mag, etwa im Sinne eines 'beschwerlichen Aufstiegs', kann dahingestellt bleiben: Der gesamte Duktus betont den im Text evozierten „auf wohlgebahntem Weg“ und damit die Zuversicht.

 
 

Wo gehest du hin? (BWV 166)

Der knappe Titel dieser in Johann Sebastian Bachs erstem Leipziger Amtsjahr am 7. Mai 1724 wohl erstmals aufgeführten Kantate entspricht einer fast ebenso knappen, ja lakonischen Komposition. Wegen einer nur unvollständigen Überlieferung aber wurde diese Kantate lange Zeit unterschätzt, dabei handelt es sich aber um ein textlich und musikalisch konzises Kleinod, gefasst um das einleitende Jesu-Wort „Wo gehest Du hin?“. Der Evangeliumstext zum Sonntag Cantate – zwischen Ostern und Pfingsten liegend – behandelt die tröstenden Abschiedsreden Jesu an seine Jünger, in diesem Fall aus Joh. 16,5-15. Während dort Jesus den Jüngern erklärt, warum sein Tod notwendig für ihre Erlösung ist und sie ihn deshalb nicht fragen müssten, wohin er gehe, greift der unbekannte Textdichter gerade diese eigentlich nicht zu stellende Frage heraus. Gemünzt ist sie nun aber allgemein auf den Menschen, wie die folgende Arie mit dem vorbildlichen Vorsatz deutlich macht: „Ich will an den Himmel denken und der Welt mein Herz nicht schenken“, wobei in der letzten Zeile die einleitende Frage mit einem eindeutigen „Mensch, ach Mensch“ wiederholt wird. Auch der anschliessende Choral – die 3. Strophe des Liedes „Herr Jesu Christ“ von Bartholomäus Ringwaldt aus dem Jahre 1582 – verlängert diese „Ich“-Perspektive und bittet direkt den Heiland um Unterstützung und Beistand für das Vorhaben eines gottgefälligen Lebens. Im Gegensatz dazu veranschaulichen das folgende Bass-Rezitativ wie die Alt-Arie bilderreich die Vergänglichkeit alles Irdischen und der weltlichen Güter, und gemahnen an die Möglichkeit des plötzlich eintretenden Todes. Dementsprechend folgt abschliessend eine Art Sterbechoral, „Wer weiss, wie nahe mir mein Ende“, der Beginn eines Liedes von Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt aus dem Jahre 1688. Mit der Formulierung in der zweiten Zeile „hin geht die Zeit, her kommt der Tod“ ergibt sich ein sinniger Bezug zur Frage am Beginn der Kantate.

Auch die Besetzung dieser Kantate ist überschaubar: Neben Streichern, Basso continuo und einer Oboe agieren drei Solo-Stimmen (Bass, Alt und Tenor) sowie ein sicher klein besetzter Chor. Bis zur Ergänzung des 2. Satzes mit einem Part für Solo-Violine, die Alfred Dürr mit detektivischem Spürsinn 1960 gelang, gab es nur eine solistische Instrumentalpartie für Oboe in diesem Satz. (Vermutlich ging ein Stimmenheft für die erste Violine bei der Erbteilung 1750 verloren, bei der üblicherweise ein Erbe den Stimmensatz und ein anderer die Partitur erhielt. Überzählige Einzelstimmen erhielt der Partiturbesitzer, um Kosten bei der allfälligen Herstellung von Aufführungsmaterialien zu sparen. Aus Versehen muss aber ein Originalstimmenheft mit der darin enthaltenden Solo-Partie dem Partiturbesitzer zugeteilt worden und schliesslich mitsamt der Partitur verloren gegangen sein. Da glücklicherweise irgendwann aus diesem 2. Satz aber auch ein Orgelarrangement [BWV 584] erstellt und 1842 in Erfurt publiziert wurde, liess sich die fehlende Partie für die Solo-Violine einigermassen sicher rekonstruieren.)

Bemerkenswert ist nun, wie Johann Sebastian Bach mit diesen Rahmenbedingungen umgeht, zeigt er doch in dieser „kleinen Form“ eine grosse Vielfalt an kompositorischen und rhetorischen Mitteln. So weist er die Frage Jesu zu Beginn dem Bass, der traditionellen Vox Christi, zu, der in einer Art Arioso im Wechselgespräch mit dem Orchester die vier Wörter seiner Frage „Wo gehest Du hin?“ insgesamt sechzehnmal in einer sich steigernden Aufgeregtheit wiederholt. Grössere Intervallschritte setzen den Fragegestus musikalisch um, zusätzlich wird der Gegensatz von kurzen Fragewörtern („wo“ und „wohin“) und dem melismatischen 'gehen' herausgestrichen.

Die mit 'Adagio' überschriebene Tenor-Arie „Ich will an den Himmel denken“ deutet die gelassene Ruhe des Glaubensstarken an – mit einem pointierten 'Ich' gleich zu Beginn. Übrigens macht die musikalische Faktur offensichtlich, dass etwa dem ersten Motiv der Oboe eine imitierende Beantwortung einer weiteren Solo-Partie folgen muss, der Satz ohne Ergänzung unvollständig bleiben muss. Wie im 1. Satz finden sich 'wortmalerische' Elemente wie bewegte Noten zu 'gehen' bzw. gehaltene Noten zu 'stehen' und auch im zweiten Teil textliche wie musikalische Bezüge auf diesen Beginn.

Den anschliessenden Choral „Ich bitte dich, Herr Jesu Christ“ gestaltet Bach wie eine seiner Orgeltrio-Sonaten, hier allerdings für ein energisches Streicherunisono mit Basso Continuo, während der Choral in langen Notenwerten vom Sopran vorgetragen wird. Diese deutlich herausgehobene „Einstimmigkeit“ des Chorals steht nicht nur für das im Text sprechende 'Ich', sondern versinnbildlicht auch die darin ausgedrückte Standfestigkeit im Glauben.

Das kurze Bass-Rezitativ beschreitet erstmals andere Tonarten: Waren zuvor nur 'weichere' B-Tonarten zu hören, so werden jetzt auch die 'härteren' Kreuz-Tonarten berücksichtigt, vielleicht auch ein musikalisches Sinnbild für die im Text genannten 'verschossenen Farben'. Denn auch hier  verdeutlichen wortmalende Effekte wieder einzelne Worte (wie etwa Läufe zu 'verfliessen' oder 'Freude').

Gleiches lässt sich auch in der folgenden Alt-Arie „Man nehme sich in acht“ beobachten: In die Ohren fallen das falsche Gelächter des (irdischen) Glücks, die konsequente Abwärtsbewegungen und vor allem die abrupten harmonischen Kehrtwendungen und gehäuften Dissonanzen zu den Textzeilen „Denn es kann leicht auf Erden, vor abends anders werden, als man am Morgen nicht gedacht“. Nach dieser furiosen Arie, die wegen ihrer 'Falschheit' einen schalen Geschmack hinterlässt, muss der abschliessende Choral mit seiner gegensätzlichen Schlichtheit geradezu ehrlich und überzeugend wirken: „Wer weiss, wie nahe mir mein Ende!“

Martin Kirnbauer