Bachkantaten in der Predigerkirche
11. April 2004
 

BWV 249
Kommt, eilet und laufet, ihr flüchtigen Füße
(Osteroratorium)

Besetzung: Soli: S A T B, Coro: S A T B, Tromba I-III, Tamburi, Flauto I/II, Traversa, Hautbois I/II, Hautbois d’amore, Bassono, Violino I/II, Viola, Continuo
Erstaufführung: 1. April 1725
Text: Unbekannter Dichter, vielleicht Christian Friedrich Henrici (Picander)?
Anlass: 1. Ostertag

 

Das Wiederaufgreifen älterer Stücke und Materialschichten im Zuge des sogenannten „Parodieverfahrens“ kann zweifellos als eine für Bach und seine Zeitgenossen typische Arbeitsweise gelten. Weit davon entfernt, ihre anlaßgebundenen und nur selten gedruckten Kompositionen als ein für allemal abgeschlossene Werke zu betrachten, waren die vielbeschäftigten Kantoren und Musikdirektoren des 18. Jahrhunderts naturgemäß daran interessiert, gelungene Entwürfe möglichst intelligent wieder zu verwenden. Konzerte, Sonaten und Ouvertüren wurden regelmäßig umbesetzt, in andere Tonarten transponiert oder neu zusammengestellt. Mit Hilfe eines geschickten Textdichters konnten jedoch auch Vokalwerke für einen neuen Zweck umgewidmet werden. Die für die Ästhetik des Barock charakteristische Typisierung von Gefühlszuständen sowie eine weitgehende Austauschbarkeit von weltlicher und geistlicher Sphäre erwiesen sich dabei als große Hilfe: ein schmachtendes Liebeslied mochte auch das Verlangen der gläubigen Seele nach ihrem Heiland illustrieren, dem lokalen Fürsten kamen mit Pauken und Trompeten die gleichen Attribute zu wie dem himmlischen König. Daher weisen viele Stücke Johann Sebastian Bachs eine verwickelte Entstehungsgeschichte auf, bei der sich die Abhängigkeit zwischen den überlieferten Fassungen sowie die Stadien der späteren Bearbeitung nicht immer zweifelsfrei rekonstruieren lassen. Dabei kann die ältere Annahme, Bach habe aus musiktheologischen Erwägungen heraus stets nur in einer Richtung – vom weltlichen Urbild zur geistlichen Endfassung also –  gearbeitet, ohne Schaden für die Reputation des Komponisten relativiert werden. Lagen doch nicht selten Vorlage und Parodie zeitlich so eng beieinander, dass es wahrscheinlicher ist, dass Bach seine Komposition von vornherein auf eine mehrfache Verwendung hin entwarf.

Ein solcher Fall liegt in Gestalt des sogenannten „Osteroratoriums“ BWV 249 vor, über dessen früheste nachweisbare Form wir durch einen Textdruck von Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, aus dem Jahr 1727 unterrichtet sind. Dieser enthält eine „TafelMusic bey Ihro Hochfürstl. Durchl. zu Weissenfels Geburths-Tage, den 23. Febr. 1725“, die mit den Worten „Entfliehet, verschwindet, entweichet, ihr Sorgen“ beginnt. Mit Christian von Sachsen-Weißenfels, dem Sproß einer Nebenlinie des sächsischen Herrscherhauses, war Bach seit der Aufführung seiner „Jagdkantate“ 1713 eng verbunden. Nach dem Tod seines Dienstherrn Leopold von Anhalt-Köthen durfte Bach den ehrenvollen Titel eines Kapellmeisters am Weißenfelser Hof führen; überdies waren Bachs Schwiegervater und wohl auch seine zweite Frau Anna Magdalena dort tätig gewesen.

Forschungen Friedrich Smends zufolge hat Bach bereits zu Ostern 1725 und damit nur wenige Wochen nach der Weissenfelser Aufführung eine erste geistliche Neufassung der Geburtstagskantate präsentiert. Diese lehnte sich noch eng an die fürstliche Tafelmusik an – so war der Eingangschor durchgängig als Duett von Tenor und Baß angelegt, und hinter den aus der Ostergeschichte bekannten Figuren Petrus, Johannes, Maria Magdalena und Maria Jacobi waren mit Menalcas, Damoetus, Doris und Sylvia die galanten Schäfer der Weißenfelser Pastoralkantate nur notdürftig verborgen.

Im Zuge zweier Wiederaufführungen im Zeitraum 1732/35 sowie nochmals nach 1740 griff Bach dann tief in die Werksubstanz ein, wobei nicht nur der Rahmen des Eingangsduetts zu einem vierstimmigen Chorsatz ausgebaut wurde, sondern wohl auch die dritte Trompete hinzukam und zahlreiche Details eine Revision erfuhren. Nun erst erhielt das Stück auch den Beinamen „Oratorium“, der ihm aufgrund der gesungenen Handlung trotz seiner Kürze besser entspricht als derjenige einer Kantate.

Dem herausgehobenen Anlaß entsprechend, beginnt die Komposition mit einer zweiteiligen Sinfonia, die fürstlichen bzw. österlichen Glanz entfaltet. Ihr erster Satz lässt sich mit dem Wechselspiel von Trompeten und Oboen sowie Streichern mit dominierender erster Violine als prachtvolles Concerto con molti stromenti auffassen. Das zarte h-Moll-Adagio exponiert hingegen eine Oboenkantilene von so klagender und zerbrechlicher Gestalt, dass man auch in Kenntnis der ursprünglich weltlichen Zweckbestimmung an die trauernden Jünger und das an Maria Magdalena gerichtete Jesus-Wort „Rühre mich nicht an“ denken mag. Daß Jesu Auferstehung zugleich einen unabsehbar langen Abschied von dieser Welt bedeutet, klingt in dieser Musik wie in den Evangelientexten der österlichen Zeit mit an – ein Eindruck, den die vom Satztyp her konventionell wirkende Streicherbegleitung mit ihrer chromatischen Abwärtsbewegung auf subtile Weise unterstreicht.

Das Orchestervorspiel des folgenden Chores erinnert so deutlich an die einleitende Sinfonia, dass man in diesen drei Sätzen durchaus eine vollständige ältere Konzertform vermuten kann. Bach ist bei der Auffüllung des Duetts („Entfliehet, verschwindet, entweichet ihr Sorgen“) ein ausgeglichener Chorsatz („Kommt, eilet und laufet, ihr flüchtigen Füsse“) gelungen, der den freudigen Ausrufen hinreichend Wucht verleiht und dennoch den durchsichtigen Charakter der Vorlage behält. Kleine Retuschen wahren dabei den der geistlichen Sphäre geziemenden Ernst – wenn das „Lachen und Scherzen“ die Herzen nicht mehr „erfüllt“, sondern nur „begleitet“, so entspricht dies ebenso wie die schroffen Kontraste der Sinfonia der gleichermaßen von Trauer und Triumph wie Unglauben und Erleichterung geprägten Atmosphäre der Osterzeit.

Nach der prachtvollen Einleitung ist das dissonant beginnende Rezitativ („O kalter Männer Sinn!“) von größter Wirkung. Noch ahnen die Jünger kaum, dass Jesus wirklich auferstanden ist – es sind die beiden Frauenfiguren, die mit der Kraft ihres Glaubens die ängstlichen Jünger beschämen. Diese Hoffnung klingt auch in der ausgedehnten Sopranarie („Seele, deine Spezereien“) nur vorsichtig an, wenn die dem Totenkult angehörende „Myrrhe“ durch den „Lorbeerkranz“ des Siegers abgelöst wird. Zwar scheint der von schmeichelnder Lust und zarten Liebesgeständnissen redende Text der weltlichen Erstfassung („Hunderttausend Schmeicheleien wallen jetzt in meiner Brust“) insgesamt besser zur Musik zu passen. Es ist jedoch Bachs herausragender Kunst zu verdanken, dass die Arie auch im geistlichen Kontext ergreift  – wie eine aus jeder Zeit herausgetretene Meditation zwischen Karfreitag und Ostermorgen.

Auch die folgenden Sätze reflektieren mehr die heilsame Botschaft als das österliche Geschehen selbst. Die Öffnung des Grabes und die Auferstehung werden eher beiläufig mitgeteilt (Rezitativ Nr. 6, „Hier ist die Gruft“). Hingegen versenkt sich der Tenor in einer ausgedehnten Arie („Sanfte soll mein Todeskummer“) in die Betrachtung des von Jesu hinterlassenen „Schweißtuchs“, das als Emblem der göttlichen Tröstung in der eigenen Todesstunde gedeutet wird. Bach konnte dafür das zutrauliche Kolorit der Weißenfelser Hirtenszenerie mit ihren Blockflöten und gedämpften Violinen sowie einem nahezu schwebenden Baß übernehmen („Wieget euch, ihr satten Schafe“), um die Geborgenheit der Seele auszudrücken.

Im folgenden Rezitativ-Arioso für Sopran und Alt („Indessen seufzen wir mit brrennder Begier“) wird über die redenden Personen der beiden Marien hinaus die Sehnsucht der gesamten Gemeinde ausgedrückt, „den Heiland selbst zu sehen“. Bach greift dafür auf bewährte Mittel der musikalischen Textausdeutung wie Seufzer und rhetorische Pausen zurück. Dem Typus der kämpferischen Tanzarie folgt das Alt-Solo „Saget, saget mir geschwinde, wo ich meinen Jesum finde“, in dem Johannes mit hörbarer Ungeduld „seinen“ Jesus sucht, wobei der Schwerpunkt nicht auf der realen Anschauung, sondern auf der auch den Gläubigen der Bach-Zeit zugänglichen Begegnung im Herzen liegt. Bach hat in der späteren Fassung die Oboe durch die wärmere Oboe d’amore ersetzt sowie den von Verlassenheit sprechenden Mittelteil kompositorisch deutlich aufgewertet.

Das Oratorium endet mit einem prachtvollen Bassrezitativ („Wir sind erfreut, dass unser Jesus wieder lebt“), das in einen mehrteiligen Tuttisatz übergeht, bei dem Alfred Dürr auf die Verwandtschaft mit dem bereits 1724 fertig gestellten Sanctus der h-Moll-Messe hingewiesen hat. Ein von rollenden Triolen und Punktierungen geprägtes Orchesterkonzert mit Choreinbau („Preis und Dank bleibe, Herr, dein Lobgesang!“) geht in einen wirkungsvoll deklamierenden und harmonisch modulierenden Mittelteil über, der in einem jubelnden Schluß im 3/8-Takt mündet, in dem die „erlösten Zungen“ ihr „Lob“ und ihren „Dank“ bis an die Ränder des „Himmels“ ausbringen. Der durstige Weissenfelser Fürst konnte nach diesem etwas abrupten Schluß endlich zur Tafel schreiten; der Leipziger Ostergemeinde stand hingegen ein noch mindestens einstündiger Gottesdienst bevor.                            

Anselm Hartinger


Siehe zur Entstehungsgeschichte des Werkes insgesamt: NBA II/17, Kritischer Bericht (P. Brainard, 1981), S. 51–57.